TESSINER BERGE WERDEN SEIT JAHRHUNDERTEN VON SCHWEREN UNWETTERN HEIMGESUCHT – DREI TOURISTINNEN AHNTEN DIE GEFAHR OFFENBAR NICHT

Nach den Unwettern vom Wochenende bleibt die Lage im Tessin angespannt. Am frühen Montagmorgen warnten die Behörden vor weiteren Überschwemmungen im Maggiatal und im Lavizzaratal. Die App Alertswiss legt Personen in Flussnähe nahe, ihre Häuser zu evakuieren und sich in höhere Lagen zu begeben.

Auch am Samstag hatten Wetterstationen und Behörden eine Warnung herausgegeben, etliche Stunden bevor sich am Abend die Gewitter über dem Maggiatal und der Leventina entluden. Doch für mindestens drei Personen war sie vergebens: Rettungskräfte der Rega fanden am Sonntag in einem Seitental des Maggiatals, dem Bavonatal, die Leichen zweier Deutschschweizer Touristinnen. Später bargen sie eine dritte Tote.

Die Frauen wurden wohl von einem Erdrutsch erfasst. Noch immer wird im Val Lavizzara, einem der beiden Täler, die sich schliesslich zum Maggiatal vereinen, nach einer vermissten Person gesucht. Am Samstag flossen nach starken Regenfällen riesige Wassermassen durch das Maggiatal. Innert weniger Stunden schwoll die Maggia massiv an: Statt der üblichen 25 Kubikmeter Wasser führte der Fluss 2000 Kubikmeter pro Sekunde, was dem Inhalt eines Olympia-Schwimmbeckens entspricht.

Die Schweizer Südalpen wurden damit erneut von einem starken Unwetter getroffen. Vor einer Woche hatte das Misox im Kanton Graubünden Überschwemmungen und Erdrutsche erlebt. Der kurze zeitliche Abstand der Katastrophen überrascht zwar, doch wie das Misox ist das Maggiatal bei den Einheimischen eine bekannte Gefahrenzone.

Cassis verspricht Hilfe des Bundes

Wie am vergangenen Sonntag im Südbündner Misox trat Bundesrat Ignazio Cassis nun auch im Tessin vor die Medien. Es sei bitter, an zwei Sonntagen hintereinander Kenntnis von Naturkatastrophen zu erhalten, die Todesopfer forderten, sagte Cassis.

Laut Cassis unterstützt der Bund den Kanton Tessin nach Kräften. Bereits am Sonntagmorgen war ein Puma-Helikopter der Armee im Einsatz. Zwei weitere sind am Nachmittag im Maggiatal angekommen, um mit vier Rega-Helikoptern unter anderem 300 isolierte Personen zu evakuieren: 200 Einheimische mussten ihre Häuser verlassen, weitere 100 Personen besuchten während des Unwetters eine Sportveranstaltung in Prato Sornico.

Die Wassermassen in der Maggia zerstörten in Cevio die für den Ort wichtige Visletto-Brücke. Die Schweizer Armee eruiert nun, wie sie eine provisorische Strassenbrücke errichten könnte, um das obere Maggiatal wieder mit dem unteren zu verbinden. Im Gebiet um Cevio und im Lavizzaratal gibt es weiterhin weder Strom noch sauberes Trinkwasser. Wie SRF am Montagmorgen unter Berufung auf die Tessiner Polizei berichtet, wird weiterhin daran gearbeitet, die Stromversorgung wieder herzustellen. In Fusio und Piano di Peccia im Lavizzaratal sowie in San Carlo im Bavonatal seien für Notfälle drei Punkte zur Kommunikation mit der Aussenwelt eingerichtet worden.

Der Gemeindepräsident von Lavizzara sagte an der Pressekonferenz am Sonntagnachmittag, er hätte nie geglaubt, dass seine Augen einmal eine solche Verwüstung sehen würden. Er wisse noch nicht, wie man den betroffenen Dörfern eine Zukunft geben könne.

Doch die Gefahren, die Unwetter wie jenes vom Wochenende für das Maggiatal bedeuten, sind den Bewohnern der Region bekannt.

Nicht der erste Erdrutsch im Bavonatal

Wenn im Maggiatal innert kürzester Zeit sehr viel Regen niedergeht, schwellen die zahlreichen Bäche und Flüsse gefährlich schnell an, und die steilen Hänge werden rutschig. Zudem ist die Gefahr von starken Gewittern auf der Alpensüdseite besonders gross. Mehrere Monate hat es im Tessin immer wieder intensiv geregnet. Es fallen enorme Wassermassen, nachdem praktisch ein Jahr lang ein Mangel an Regen den Grundwasserspiegel stark hat absinken lassen.

Die Böden sind inzwischen übersättigt. Sie können das zusätzliche Wasser immer schlechter aufnehmen. Ausserdem schwindet aufgrund der Klimaerwärmung der Permafrost in den höheren Berglagen, so dass noch mehr Wasser die Hänge belastet. Die Hänge geraten ins Rutschen, wie nun im Bavonatal und vor einer Woche im Misox geschehen.

Ein Kenner der Region sagt, es habe im Bavonatal schon einmal einen Erdrutsch gegeben. Der Mann will anonym bleiben. Im August 1992 habe ein Murgang bei Faedo eine Frau und ihren Sohn in den Tod gerissen und den Weiler selber in zwei Hälften geteilt, sagt er. Später habe man mit dem Material des Erdrutsches einen Schutzhügel errichtet, um weitere Unglücksfälle zu vermeiden. Und, sagt er: Nach einem Gewitter im Jahr 1987 sei der Fluss Bavona über die Ufer getreten und habe die einzige Strasse durchs Seitental stark beschädigt. Zudem habe sich ein Murgang ereignet, der zum Glück keine Leben gefordert habe.

«Im Volksmund heisst es, man solle das Bavonatal verlassen, wenn es stark regnet», sagt der Mann.

Der kantonale Geologe Stefano Daverio beurteilt die Lage ähnlich. Das Maggiatal sei im Falle von starken Regenfällen ein typisches Gebiet mit erhöhter Unwetter- und Katastrophengefahr. Das gelte besonders für das Bavona-Seitental: Die Felswände im Tal seien enorm steil und die Fliesswege des Wassers kurz und heftig. Zusammen mit den durchnässten Hängen sei das Risiko von Erdrutschen erhöht. Erst im vergangenen Dezember seien Bewohner im Tal zum Verlassen der Zone aufgefordert worden.

Laut dem Leiter des regionalen Krisenstabs, Polizeikommandant Antonio Ciocco, hat man die drei Todesopfer vom Wochenende ausserhalb ihres Ferienrusticos gefunden. Das Haus sei von den Geröll- und Erdmassen verschüttet worden. Die drei Touristinnen hätten von den Warnungen der Behörden offenbar nichts gewusst, sagt Ciocco.

Die Naturkatastrophen in den Südalpen häufen sich. Laut Ciocco wirft die Situation die Frage auf, ob das Warnsystem überdacht werden müsste, und zwar auf nationaler Ebene.

Bundesrat Cassis sagt, auch er habe die Warnmeldungen für das Maggiatal auf seinem Handy gesehen. Er habe jedoch den Eindruck, dass die Menschen die Warnungen gerne als übertrieben einstufen. Es sei eine heikle Abwägung, wie deutlich und flächendeckend die Behörden die Menschen warnen sollten. Warnungen sollten keine Panik erzeugen, so Cassis.

Bei den Rettungskräften, der Polizei und dem Zivilschutz heisst es, Erdrutsche seien fast nie vorhersehbar. Die Flutwellen in der Maggia, die aufgrund heftiger Gewitter entstehen können, sind berechenbarer: Plötzliche intensive Regenfälle überfüllen die verschiedenen Stauseen in den Bergen des Maggiatals. Um einen Dammbruch zu vermeiden, müssen die Betreiber kurzfristig Wasser in die Bäche ablassen, die in die Maggia führen.

Der plötzliche Ablass von Wasser kann Flutwellen auslösen, die in der Vergangenheit schon einige Todesopfer forderten. Es traf meist badende Touristen, die vom Wasser überrascht wurden.

Dreihundert Todesopfer in zweihundert Jahren

Der Kanton Tessin schreibt auf seiner Website, dass im Tessin in den letzten zweihundert Jahren dreihundert Personen infolge von Unwettern gestorben seien. Zudem habe es Sachschäden von insgesamt 1,8 Milliarden Franken gegeben. In den letzten dreissig Jahren hat der Kanton laut eigenen Angaben mehr als 600 Millionen Franken in Schutzvorrichtungen investiert.

Die Naturkatastrophen der letzten 130 Jahre haben im Kanton Tessin Spuren hinterlassen.

Eine Schlammlawine machte 1898 den oberen Teil des Leventina-Dorfes Airolo dem Erdboden gleich und riss drei Menschen in den Tod. Bis heute bekannt ist der Erdrutsch von Biasca im Jahr 1513, der zur Aufstauung eines Sees führte. Zwei Jahre später entleerte sich der See plötzlich, zerstörte Biasca und richtete in Bellinzona sowie in der Magadinoebene riesige Schäden an. Mehrere Bewohner verloren ihr Leben.

Die Stadt Locarno erlebte im August 1978 schwerwiegende Überschwemmungen. Die Maggia trat nach extrem heftigen Regenfällen über die Ufer, überschwemmte Quartiere, richtete schwere Sachschäden an und forderte sieben Todesopfer. In der Ortschaft Campo Vallemaggia gab es 1950 einen massiven Erdrutsch. Ein Teil des Maggiatal-Dorfes Someo wurde 1924 durch einen Erdrutsch zerstört, zehn Menschen kamen dabei ums Leben.

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