TOD EINES INDISCHEN ERNTEARBEITERS IN ITALIEN: SATNAM S. HATTE KEINE CHANCE – ARBEITGEBER VERHAFTET

Die Bemühungen der Ärzte im Römer Spital San Camillo waren vergeblich: Satnam S. wurde eingeliefert, als es schon zu spät war. Er hatte zu viel Blut verloren. Am 19. Juni ist der 31-jährige indische Erntearbeiter gestorben.

Ursache seines Todes war ein Arbeitsunfall, draussen auf den Feldern der Pontinischen Ebene, südlich von Rom in der Provinz Latina. Satnam wurde von einer Maschine erdrückt, die von einem Traktor gezogen wurde. Dabei verlor er den rechten Arm, beide Beine wurden zerquetscht. Statt sofort Hilfe zu holen, fuhr Satnams Chef ihn zu seiner Unterkunft und liess ihn dort samt abgetrenntem Arm einfach liegen. Erst als Nachbarn Alarm schlugen, wurde er schliesslich ins Spital gebracht. Es folgten mehrere Operationen. Vergeblich, Satnam S. starb an den Folgen der gravierenden Verletzungen.

Der Fall hat Italien aufgewühlt. Reporter sammeln im Stundentakt Stellungnahmen von Politikern und Experten von links bis rechts, am Samstag nach Satnams Tod kam es zu einer Protestkundgebung in Latina. Gegen Satnams Arbeitgeber wird inzwischen ermittelt, am 2. Juli wurde er verhaftet.

In die Empörung über die unterlassene Nothilfe mischt sich Abscheu über die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Erntearbeiter. Staatspräsident Sergio Mattarella wandte sich am Wochenende in einer Rede gegen die Ausbeutung der «Schwächsten und Wehrlosesten». Dagegen sei mit Entschlossenheit vorzugehen, es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, dass diese Methoden «durch Ignorieren toleriert» würden.

Wettlauf um tiefe Preise

«Diese Methoden»: In Italien nennen sie sie «caporalato». Es sind illegale Formen der Anwerbung von Arbeitskräften durch Vermittler – sogenannte «caporali», Korporale –, die im Auftrag von Unternehmern und gegen Bestechungsgelder Tagelöhner einstellen, ohne dabei die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten. Auch die Mafia hat dabei ihre Hände im Spiel.

Vor allem in der Landwirtschaft ist das ein bekanntes Phänomen. Laut gewerkschaftlichen Statistiken sind in Italien 230 000 Erntearbeiter Ausbeutung und Missbrauch ausgesetzt, das sind etwa ein Viertel aller Beschäftigten in der Branche. 55 000 unter ihnen sind Frauen. Die Stundenlöhne betragen oft nur rund zwei Euro. Von den von Missbrauch besonders betroffenen Regionen liegt knapp die Hälfte in Süditalien.

2014 wurde vom Nationalen Institut für soziale Fürsorge (INPS), dem wichtigsten Sozialversicherer in Italien, ein Netz von Landwirtschaftsunternehmen gegründet, die sich verpflichten, in ihren Firmen für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen. Von den dafür theoretisch infrage kommenden 175 000 italienischen Betrieben haben sich nur gerade gut 6000 gemeldet. Offenbar handelt es sich – wie in Italien nicht ungewöhnlich – um ein Bürokratiemonster. «Es werden zu viele Formalitäten verlangt», sagt Giorgio Mercuri, einer der teilnehmenden Unternehmer, «das schreckt die Firmen ab.» Vor allem aber habe die Registrierung keinen konkreten Nutzen. Es werde nicht einmal ein Aufkleber zur Identifizierung der Produkte ausgegeben, der den Verbrauchern die Auswahl erleichtern würde.

Die meisten Landwirtschaftsbetriebe orientieren sich derweil nach unten. Begünstigt durch das grosse Reservoir an billigen Arbeitskräften, findet ein harter Wettlauf um tiefe Preise statt – miserable Arbeitsbedingungen sind die Folge. Dabei handelt es sich nicht nur um Schwarzarbeit, viele Firmen operieren auch im Graubereich.

Das geht dann zum Beispiel so: Ein Landwirtschaftsbetrieb stellt einen Angestellten offiziell ein und lässt ihn so lange schuften, bis er Anspruch auf Arbeitslosengeld hat. Danach gibt der Arbeitgeber vor, ihn zu entlassen, lässt ihn aber weiter arbeiten – zu schlechteren Bedingungen, weil der Erntearbeiter ja inzwischen staatliche Unterstützungsleistungen bezieht. Fliegt ein solcher Fall auf, steht zuerst der Angestellte in der Verantwortung. Der Vorwurf des Betrugs fällt auf ihn, der Arbeitgeber kommt in der Regel mit einer Busse davon.

Es ist dies offenbar eine Methode, die auch in Latina häufiger zur Anwendung kommt, wie die Medien jetzt berichten. Praktiziert wurde sie unter anderem vom Vater jenes Landwirtes, der den schwerverletzten Satnam S. einfach vor der Unterkunft liegenliess. «Eine Unachtsamkeit, die uns jetzt teuer zu stehen kommt», soll der Vater die Nachricht vom Tod des Inders kommentiert haben. Zum zynischen System gehört, dass man Arbeitsunfälle verschweigt und – wie im Fall von Satnam S. – Arzt- oder Spitalbesuche unbedingt vermeidet, um die Behörden im Unwissen über die Arbeitsbedingungen zu lassen.

Wassermelonen, Kiwis, Artischocken

Die Pontinische Ebene gehört zu den Gebieten mit der grössten Konzentration von landwirtschaftlichen Betrieben in Italien. Angebaut werden Wassermelonen, Trauben und Kiwis. Die Provinz Latina gilt als der grösste Produzent von Kiwis in Europa. Im südlicheren Teil werden Artischocken, Zucchini, Zitrusfrüchte und Spinat geerntet. Zwei der wichtigsten Obst- und Gemüseverteilzentren Europas liegen in dem Gebiet nahe der Hauptstadt Rom.

Bis in die 1930er Jahre war das Gebiet Sumpfland. Unzählige Versuche, die Gegend urbar zu machen, scheiterten. Es war der «Duce», Benito Mussolini, unter dem auf der Basis der Pläne der liberalen Regierungen der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Trockenlegung begann. Mit einem dichten Netz von Kanälen gelang es, dem Sumpf rund 770 Quadratkilometer Landwirtschaftsland abzutrotzen. Es wurde in kleinere Parzellen aufgeteilt und Familien zur Bewirtschaftung zugewiesen, oft ehemaligen faschistischen Kämpfern aus dem Norden, aus dem Friaul, dem Veneto oder der Emilia-Romagna. Etwa 34 000 Menschen kamen so in den Agro Pontino, wie die Gegend hier genannt wird.

Später versuchte man, das Gebiet touristisch zu erschliessen, doch seit den späten 1980er Jahren kehrte die intensive Landwirtschaft zurück – es war die Zeit, als zahlreiche Ausländer, unter ihnen auffällig viele Sikhs aus Indien, nach Italien kamen und Arbeit in den Agrarbetrieben des Landes fanden. Dank den billigen neuen Arbeitskräften wurde das Geschäft wieder lukrativ. Mit der Zeit bildeten sich kleine Gemeinschaften, die im Verlauf der Jahre auf Tausende von Menschen anwuchsen.

Die «caporali», die Vermittler, sind oftmals selbst Inder, die in Verbindung mit ihrem Heimatland stehen und dort immer neue Arbeitskräfte rekrutieren. Sie verkaufen ihnen Flugtickets, manchmal eine saisonale Arbeitsbewilligung – und dies oft zu hohen Preisen. So müssen sich die Erntearbeiter verschulden und sind gezwungen, einen Teil des Geldes, das sie in Italien verdienen, an die «caporali» abzuliefern.

Auch Satnam S. dürfte auf diesem Weg in die Pontinische Ebene gekommen sein. Es war eine Einbahnstrasse. Die Regierung in Rom hat schärfere Kontrollen angekündigt.

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