DER «ANTI-POLITIKER» KEIR STARMER KOMMT AN DIE MACHT. WER IST DER NEUE BRITISCHE PREMIERMINISTER?

Es war nicht gerade eine Welle der öffentlichen Begeisterung, die Keir Starmer bei der Unterhauswahl vom Donnerstag in den britischen Regierungssitz in der Downing Street Nummer 10 getragen hat. Der Charme eines Tony Blair geht dem Labour-Chef ebenso ab wie die Eleganz eines David Cameron. Das Charisma eines Boris Johnson fehlt ihm genauso wie die exzentrische Tollkühnheit einer Liz Truss. Während der TV-Debatten wirkte Starmer in seinen blauen und grauen Anzügen und weissen Hemden etwas bieder, steif und ungelenk. Als Politologen Wählerinnen und Wähler im letzten Jahr baten, Starmer zu beschreiben, war «langweilig» das mit Abstand meistgenannte Adjektiv.

«Der Anti-Politiker»

Und doch ist es kein Zufall, dass gerade Starmer zum erst siebten Labour-Premierminister in der britischen Geschichte avanciert ist. Offensichtlich ist zwar, dass er von den Fehlern der Konservativen profitiert hat, die nach vierzehn Jahren an der Macht erschöpft und abgewirtschaftet wirken.

Doch hat der 61-jährige Starmer seine Partei in den letzten vier Jahren Schritt für Schritt in eine gute Ausgangslage gebracht, um aus der Schwäche der Konkurrenz Kapital zu schlagen. Dies gelang ihm nicht mit einem mitreissenden Programm oder grossen Visionen, sondern mit systematischer Machtpolitik und strategischem Geschick.

Der Jurist stieg im Alter von 51 Jahren vergleichsweise spät in die Politik ein. Das ist mit ein Grund dafür, dass Tom Baldwin für seine im Frühjahr erschienene Biografie über den Labour-Chef beinahe den Titel «Der Anti-Politiker» gewählt hätte. «Starmer gehört keinem ideologischen Labour-Flügel an und bringt keine jahrzehntealten Loyalitäten mit sich, was ihm politisch mehr Flexibilität gibt», erklärte der ehemalige «Times»-Journalist und frühere Labour-Mitarbeiter im Gespräch mit einer Gruppe von Auslandskorrespondenten in London.

«Zudem liegt ihm der performative Aspekt der Politik nicht», sagt der Autor, der Starmer für die Recherchen zu seiner wohlwollenden Biografie mehrere Monate lang begleitet hat. Viele Politiker behaupten, es gehe ihnen nicht um ihre Person, sondern um Inhalte. Baldwin glaubt, dass dies bei Starmer stärker zutrifft als bei anderen. «Auf einer Bühne zu stehen und bejubelt zu werden, ist ihm unangenehm.» Er spricht nur widerwillig über seine Gattin Victoria und die beiden Kinder im Teenageralter, die nach dem jüdischen Glauben ihrer Mutter aufwachsen.

Engagement für sozial Schwächere

Doch wer Premierminister werden will, muss sich der Wählerschaft nicht nur als Politiker, sondern auch als Person präsentieren. Daher erzählte der spröde Starmer im Wahlkampf immer wieder die Geschichte seiner Kindheit in einem Reihenhaus im Städtchen Oxted südlich von London.

Keir Starmer kommt 1962 als zweites von vier Kindern eines Werkzeugschmieds und einer Krankenschwester auf die Welt. Die strammen Sozialdemokraten taufen ihn nach Keir Hardie, dem Gründer der britischen Labour-Partei. Der strenge Vater arbeitet hart, doch das Geld ist knapp und die väterliche Beziehung zu den Kindern unterkühlt. Die Mutter leidet an der Autoimmunerkrankung Morbus Still. Stoisch erträgt sie die Krankheitsschübe, die ihre Gelenke immer stärker angreifen. Der Bruder hat Lernschwierigkeiten und wird von den Nachbarskindern als «Dummkopf» gehänselt.

Früh dringt das Interesse an Politik durch. Im Schulbus liefert sich Keir Starmer intensive Debatten mit Andrew Sullivan, der später als konservativer Blogger in den USA Karriere machen sollte. In der Familie wurzelt sein Engagement für sozial Schwächere. Bis heute spricht Starmer von der Notwendigkeit, den Menschen die Chancen zu geben, die Barrieren der britischen Klassengesellschaft zu durchbrechen. Und er erwähnt in jedem Interview, dass sein Vater Werkzeugmacher gewesen sei, um seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen zu betonen.

Starmer war ein fleissiger und talentierter Schüler, weshalb er im Alter von elf Jahren die Aufnahmeprüfung einer Grammar School in Surrey schaffte. Durch den Besuch dieser selektiven öffentlichen Schule erhielt er eine Chance zum sozialen Aufstieg, die in Grossbritannien bis heute nur einer Minderheit von Kindern aus bescheidenen Verhältnissen offensteht.

In den frühen achtziger Jahren besucht Keir Starmer als erstes Mitglied seiner Familie die Universität. Zuerst studiert er in Leeds Rechtswissenschaften, dann erhält er die Gelegenheit, in Oxford ein Nachdiplomstudium in Zivilrecht zu absolvieren. An der Eliteuniversität verkehrt er in linken Zirkeln und ist Herausgeber des trotzkistischen Magazins «Socialist Alternatives».

Einsatz als Anwalt für Randständige

Starmer erlangt das Anwaltspatent und wird Menschenrechtsanwalt. Er verteidigt Umweltaktivisten gegen eine Klage der Fast-Food-Kette McDonald’s. Er repräsentiert Kriminelle, denen in karibischen Ländern die Todesstrafe droht. Und er vertritt zwei radikale islamistische Prediger in einem Auslieferungsverfahren. Später wird Starmer diese Mandate mit dem Anrecht auf Rechtsvertretung begründen, das im englischen Justizsystem jedermann unabhängig von seiner Herkunft und Ideologie zusteht.

Im Jahr 2002 wird er nach Belfast berufen. Im Rahmen des Friedensprozesses in Nordirland begleitet er als Menschenrechtsbeauftragter die Reform der Polizeikräfte, die während des Bürgerkriegs eine umstrittene Rolle gespielt hatten. Später sollte Starmer sagen, er habe in Belfast erkannt, dass Reformen aus dem Inneren einer Institution einfacher zu bewerkstelligen seien als von aussen durch Proteste oder Rechtsklagen.

Der grosse Karrieresprung erfolgte im Juli 2008. Starmer wurde im Alter von 47 Jahren Chef des britischen Crown Prosecution Service. Um sich der Wählerschaft als Law-and-Order-Politiker zu präsentieren, sprach Starmer später im Wahlkampf unermüdlich davon, wie er als Leiter der Generalstaatsanwaltschaft Terroristen verfolgt und Verbrecher ins Gefängnis gesteckt habe. Für seine Verdienste wurde er von Königin Elizabeth II. 2013 zum Ritter geschlagen, womit er definitiv ins britische Establishment aufstieg.

Sir Keirs juristischer Hintergrund prägt seinen Politikstil bis heute. Als er als Oppositionschef im Unterhaus Boris Johnson gegenüberstand, versuchte er den konservativen Premierminister wie einen Beschuldigten auf der Anklagebank in Widersprüche zu verwickeln und ihn allerhand Verfehlungen und Falschaussagen zu überführen. Doch wie der Biograf Baldwin erklärt, limitiert Starmers juristische Karriere ihn als Politiker auch: «Er spricht wie im Gerichtssaal mit einer neutralen und nasalen Stimme. Er vertraut auf die Kraft der Argumente und will auf keinen Fall etwas Falsches sagen.»

Jeremy Corbyns falscher Freund

Keir Starmer mag kein mitreissender Politiker sein. Dafür ist er ein gewiefter Machtpolitiker. Das zeigte sich vor allem im Umgang mit seinem Vorgänger als Parteichef, Jeremy Corbyn. Nach seiner Wahl ins Unterhaus im Nordlondoner Wahlkreis Holborn und St Pancras 2015 diente er sich Corbyn an und trat als Staatssekretär für Migration in dessen Schattenkabinett ein.

2016 beteiligte er sich an einem Aufstand der Zentristen in der Partei gegen den marxistischen Labour-Chef. Doch nachdem Corbyn von der Parteibasis im Amt bestätigt worden war, kehrte Starmer als Brexit-Minister ins Schattenkabinett zurück und trieb Pläne für eine Wiederholung des Referendums voran. Die dramatische Wahlniederlage vom Dezember 2019 beendete die Ära Corbyn – und Starmer bewarb sich um seine Nachfolge und gewann.

Im Auswahlverfahren um die Parteiführung hatte er Corbyn noch als Freund bezeichnet, um sich auch mit der Unterstützung der prononciert linken Parteigänger die Wahl zu sichern. Einmal im Amt, besetzte Starmer parteiinterne Schlüsselpositionen allerdings mit zentristischen Loyalisten. Er setzte eine Politik der Nulltoleranz gegenüber Antisemitismus durch und marginalisierte den linken Flügel mit zunehmend härterer Hand. Viele Linksaktivisten kehrten der Partei den Rücken. Corbyn wurde zuerst aus der Fraktion und dann aus der Partei geworfen – nun trat er in seinem Wahlkreis im Norden Londons gar als Unabhängiger gegen den offiziellen Labour-Kandidaten an.

Auch inhaltlich hat Starmer mit Corbyn gebrochen. Während seiner Kandidatur zum Parteichef hatte er noch gelobt, dessen Pläne zur Verstaatlichung der Energie- und Wasserversorgung oder zur Abschaffung der Studiengebühren zu übernehmen. Inzwischen hat Starmer ein Versprechen nach dem anderen beerdigt – mit dem Argument, durch die Pandemie, den Ukraine-Krieg und die Marktturbulenzen rund um Liz Truss’ Steuersenkungspläne habe sich die finanzielle Lage des Staates radikal verschlechtert.

Im Wahlkampf tourte Starmer mit dem Argument durchs Land, er habe die Labour-Partei grundlegend reformiert, weshalb er nun auch Grossbritannien reformieren wolle. Er bekannte sich ohne Wenn und Aber zur Armee und zur nuklearen Abschreckung. Er versprach eine nachhaltige Finanzpolitik und beteuerte, eine Labour-Regierung werde die Arbeitsmigration reduzieren, die seit dem EU-Austritt auf ein Rekordniveau gesprungen ist.

Dass er mit diesen Botschaften progressive Wähler in urbanen Wahlkreisen an die Grünen oder andere Parteien verlieren könnte, nahm er in Kauf. Viel wichtiger war ihm, der Bevölkerung in eher konservativen Wahlkreisen die Angst vor einer Labour-Regierung zu nehmen, um konservative Wechselwähler für sich zu gewinnen.

Unbedingter Siegeswille

Keir Starmer ist ein passionierter Hobby-Fussballer und ein eingefleischter Fan des Londoner Klubs Arsenal. Er vergleicht seine Rolle als Parteichef mit jener eines Fussballtrainers und lässt in der Politik einen ähnlich grossen Ehrgeiz erkennen wie auf dem Rasen. Gegen linke Kritiker wehrte er sich stets mit dem Argument, er wolle Labour nach der Niederlage von 2019 wieder wählbar machen und an die Macht führen. «Sein absoluter Siegeswille als Fussballer erklärt seine Unerbittlichkeit als Anwalt und Politiker», meint der Biograf Baldwin.

Welche Version von Starmer hat Grossbritannien zu erwarten? Den ehemaligen Corbyn-Freund oder den moderaten Zentristen? Den einstigen Verfechter einer zweiten Volksabstimmung, welche den EU-Austritt rückgängig machen sollte, oder den vorsichtigen Taktiker, der das Brexit-Thema im Wahlkampf umschiffte? Denjenigen Starmer, der mehr Geld in das Gesundheitswesen und die Schulen investieren möchte, oder jenen, der die Haushaltsregeln einhalten und auf Steuererhöhungen verzichten will?

«Er wird ein pragmatischer Premierminister sein, der keiner Ideologie folgt, sondern das Land zusammenzubringen versucht», erklärt Baldwin. Vielleicht braucht es einen Langweiler, um nach den Turbulenzen und Skandalen der letzten Jahre Seriosität und Integrität in die Politik zurückzubringen. Starmer sagt, Grossbritannien stehe vor einem Jahrzehnt der nationalen Erneuerung. Damit verspricht er nicht das Blaue vom Himmel, sondern räumt ein, dass sich die Probleme nicht über Nacht in Luft auflösen werden.

Die britische Wirtschaft schwächelt, die Steuerlast und die Staatsverschuldung sind so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Gleichzeitig ist der Bedarf an Investitionen in die Infrastruktur riesig. Das sind Herkulesaufgaben für einen Politiker, dem es schwerfällt, die Bevölkerung zu begeistern und zu inspirieren.

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