«NICHT AUSGESCHLOSSEN, DASS WIR WOHNGEBIETE AUFGEBEN MüSSEN»

Im Interview spricht Geologe Flavio Anselmetti über die Unwetter-Gefahr in der Schweiz – und darüber, was sie für unsere Zukunft bedeutet.

In den vergangenen Wochen sorgten Unwetter in verschiedenen Teilen der Schweiz für Schaden an Mensch und Infrastruktur. Im Interview mit 20 Minuten erläutert Flavio Anselmetti, Professor am Institut für Geologie der Universität Bern, wie sich die Gefahrensituation in den letzten Jahren verändert hat – und wie sie sich in Zukunft verändern könnte.

Herr Anselmetti, wie hat sich die Gefahrensituation in der Schweiz hinsichtlich Wetterextremen in den letzten Jahrzehnten verändert?

Das vergangene Jahrhundert war bezüglich Wetterereignissen relativ ruhig – im Fachjargon spricht man von einer «Katastrophenlücke». Im 19. Jahrhundert hingegen gab es relativ viele Extreme, auch jetzt nehmen sie wieder zu. Besonders in den letzten Jahren kam es zu einer Häufung. Es liegt nahe, dass dieser zu beobachtende Trend auch im Zusammenhang steht mit dem Klimawandel, es kommen allerdings auch natürliche Schwankungen vor.

Welche Regionen sind besonders betroffen?

Besonders betroffen ist vor allem der Alpenraum, wo es prinzipiell viel regnet und auch viel Lockermaterial durch Wassermassen mobilisiert werden kann. Aber auch im europäischen Flachland bildeten sich kürzlich vermehrt Gewitterzellen, welche zu Flutereignissen führten. Besonders die Sommergewitter waren in den letzten Jahren heftig. Diese können überall vorkommen – man kann keine Region generell ausschliessen.

Wie wird sich die Situation in Zukunft entwickeln?

Natürlich lässt sich das nicht abschliessend voraussagen. Generell dürfte die Erderwärmung zu grösseren Niederschlagsmengen führen. Die Weltmeere erreichen bisher unerreichte Temperaturen, was zu mehr Verdunstung führt. Gleichzeitig transportiert warme Luft mehr Feuchtigkeit. Heisst: Es befindet sich mehr Wasser im Kreislauf – Extremniederschläge werden entsprechend eher zunehmen.

Wie schützt die Schweiz sich vor zunehmenden Extremniederschlägen?

Die Kantone erstellen anhand von Spuren im Gelände, historischen Ereignissen und numerischen Modellen in regelmässigen Abständen Gefahrenkarten. Sie berechnen also, bei welchem Ereignis man wo mit welchen Wassermassen rechnen müsste, über welche Wege diese abfliessen und welches Material sie mitschwemmen würden. Anhand dieser Erkenntnisse werden die Gebiete in Gefahrenstufen eingeteilt. Sollte sich Infrastruktur in diesen Gefahrenzonen befinden, kann mit entsprechend dimensionierten baulichen Massnahmen die Einteilung in diese Gefahrenklassifizierung gesenkt werden.

Funktioniert das?

In den meisten Fällen lassen sich Gefahrenzonen durch solche Massnahmen reduzieren. Vereinzelt wird jedoch entschieden, dass es trotz Massnahmen nicht mehr verantwortbar ist, Personen in gewissen Gebieten leben zu lassen. Dann verhängt der Kanton ein Nutzungsverbot. Durch ein Ereignis zerstörte Gebäude dürfen dann in solchen Zonen nicht mehr aufgebaut werden und die entsprechenden Bewohnerinnen und Bewohner müssen umziehen.

Werden künftig vermehrt Gebiete unbewohnbar?

Dass Orte für nicht mehr bewohnbar deklariert werden, kommt selten vor und ist nicht die Regel. Angesichts des Klimawandels kann nicht ausgeschlossen werden, dass wir in den kommenden Jahren vermehrt einzelne alpine Wohngebiete in Schweizer Tälern aufgeben müssen. Wo genau das sein wird, lässt sich noch nicht sagen.

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