DIESES BISKUIT RETTET LEBEN: WIE EIN SCHWEIZER MIT EINEM 14-GRAMM-GEBäCK DEN HUNGER BEKäMPFT

Wieder sieht Roland Marion die schlimmen Bilder aus dem Süden Madagaskars. Abgemagerte und sterbende Kinder. Sie verfolgten ihn so lange, bis ihm klarwird: Ich will mehr als Brote und Torten backen lassen.

Seit 2008 führt der 81-jährige Schweizer in Tamatave an der Ostküste der Insel eine Produktionsstätte für Backmittel und beliefert Bäckereien und Konditoreien. Und nun denkt der Romand an Hilfsnahrung. An ein Biskuit, nicht zum Schlemmen, sondern für den leeren Magen. Nahrung pur. Etwas Wirksames, Kleines.

Etwas, das Leben retten soll.

2020 setzt er die Idee in die Tat um – Biskuits für hungernde Kinder, von Einheimischen hergestellt, mit einheimischen Zutaten. Made in Madagaskar: Daran hält Marion fest, denn er will nicht von Importen abhängig sein.

Er investiert eine sechsstellige Summe. Je mehr finanzielle Mittel, desto mehr Biskuits. Bis jetzt hat er tonnenweise produzieren lassen.

Wenige Gramm Biskuit pro Tag reichen, damit mangelernährte Kinder überleben. Und dazu ein ordentliches Leben führen können. Marion wagt nicht abzuschätzen, wie viele Kinder dank seinem Produkt überlebt haben. Was er aber weiss: kleines Gebäck, grosse Wirkung.

Dicht, wenig salzig, trocken

Das Biskuit ist kein Guetzli, ist kein gesüsstes, im Mund zergehendes und mit Schokolade veredeltes Feingebäck. Sondern ein Konzentrat. Dichte Konsistenz, wenig salzig, etwas süsslich, neutral, angenehmer Biss, trocken, irgendwie undefinierbar, nahrhaft – und im Abgang ist etwas Meer zu schmecken.

«Wenn die Kinder nicht mehr von der Mutter ernährt werden, wird deren Essen oft schnell unausgeglichen», sagt Marion. Die Folgen: Wachstumsrückstand, Blut- und Vitaminmangel, Untergewicht. Im schlimmsten Fall: früher Tod. Ausführliche Tests mit 300 Kindern in zwei südlichen Dörfern während dreier Monate belegen den Biskuit-Erfolg: Die Kinder nahmen je nach Alter innert sechs Wochen um 200 bis 600 Gramm an Gewicht zu, der Armumfang wuchs um einen Zentimeter.

Die Resultate sind in einem Bericht festgehalten. Eine Ernährungsexpertin hat die Untersuchung geleitet – auch mit Unterstützung der Schweizer Botschaft.

Roland Marion ist ein Schweizer Bauernsohn, mit einer Madagassin verheiratet und inzwischen selbst ein halber Madagasse geworden. Er hat zwei adoptierte Kinder von hier, die sich in der Schweiz ausbilden.

Marion sagt über seinen Antrieb: «Ich mag die Niederlage nicht. Und ich mag den Charakter des madagassischen Volkes. Ich habe eine tolle Berufskarriere hinter mir und empfinde Glück, etwas zurückgeben zu können.» Marion greift auf seine Erfahrung als Agraringenieur zurück und will sich in einem der weltweit ärmsten Länder nicht der Hoffnung berauben lassen.

Aber das ist nicht so einfach. Die Verzweiflung ist zeitweise nahe. Der trockene Süden Madagaskars wird wiederholt zum Hunger-Hotspot. Der «Kere», wie die Hungersnot in der Landessprache heisst, fallen viele Menschen zum Opfer. Die Armut ist greif- und sichtbar. In den Städten, auf dem Land, die Menschen leben in einfachsten Verhältnissen. Je südlicher, desto prekärer.

Die Armut ist auch mit der Abholzung zu begründen. 1950 waren über achtzig Prozent Madagaskars bewaldet, heute sind es weniger als deren acht.

Der Süden ist das Armenhaus des ohnehin armen Landes.

Der Kleinunternehmer Roland Marion ortet in Madagaskar einen «kontinuierlichen Niedergang». Die Bevölkerungszunahme flösse Angst ein, sagt er. Die Einwohnerzahl hat sich in den letzten 25 Jahren verdoppelt und ist auf fast 30 Millionen gestiegen.

Die Vorteile eines trockenen Biskuits

Roland Marion arbeitete einst für den Schweizer Technologiekonzern Bühler und gelangte als Experte für Mühlen und Getreideverarbeitung nach Afrika. Für sein Biskuit-Projekt aktiviert er sein über Jahrzehnte in Kaderpositionen erlangtes Wissen – und kooperiert mit Ernährungsspezialisten, mit Universitäten und mit dem Lebensmittelriesen Nestlé.

Sein Fachwissen führt zu einem 14 Gramm schweren Biskuit, das nicht weiterverarbeitet werden muss und direkt konsumiert werden kann. Das ist aus hygienischen Gründen von Vorteil. Die Trockenheit des Biskuits verlängert dessen Haltbarkeit.

Für 2- bis 5-jährige Kinder genügen täglich drei Biskuits, für 6- bis 10-jährige deren fünf. Das deckt zusammen mit Wasser den Grundbedarf und bedeutet: Das Kind überlebt. Herrscht Hungersnot, bleibt in der Dürre oft nur Maniok zum Essen, die stärkehaltige Wurzelpflanze. Die Biskuits sind das entscheidende Plus.

Die Zutaten stammen zu 99 Prozent aus Madagaskar. Da wäre etwa Maniok-Mehl. Es ist glutenfrei und gut zu verdauen. Hinzu kommen unter anderem Erdnüsse (Protein, Fett), Kokosnussöl, Eier, Magermilchpulver, Zucker und Salz.

Das letzte Prozent ist eine Multivitamin-Mischung mit Mineralstoffen und Spurenelementen, empfohlen vom Uno-Kinderhilfswerk Unicef. Marion importiert sie aus Deutschland.

Eine spezielle Zutat ist die Blaualge (Spirulina). Sie ist reich an Proteinen und Mineralstoffen – und verantwortlich für den leichten Meer-Geschmack.

Anhand dieser Blaualge kann man nachvollziehen, woran die Wirtschaft Madagaskars krankt: Die nährstoffreiche Zutat wird in Mahajanga an der Westküste der Insel gezüchtet.

Die Insel bietet mit hohen Luft- und Wassertemperaturen und mit viel Sonne zwar ideale Bedingungen für Blaualgen. Sie werden in Wasserbecken gezüchtet und danach getrocknet und gepresst. Aber die Produktion ist auf elektrische Energie angewiesen, auf Energie, die in Madagaskar fünfzig Prozent teurer geworden ist und manchmal stundenlang ausfällt.

Hinzu kommen die miserablen Strassenbedingungen. Für den Weg von Mahajanga nach Tamatave muss man 15 bis 24 Stunden einrechnen.

Wenn die Blaualgen dann schliesslich die über 900 Kilometer von der West- zur Ostküste zurückgelegt haben und im Biskuit verarbeitet sind, zerbricht sich Marion den Kopf, wie die Ware in den 1000 Kilometer entfernten Süden gelangt. Der Zustand des Strassennetzes verschlechtert sich laut Einheimischen seit Jahren. Und das in einem Land, das mehr als vierzehn Mal so gross ist wie die Schweiz.

Schwere Lastwagen können auf den Hauptachsen nicht selten nur im Schritttempo fahren, um die furchterregenden Löcher zu umfahren. Manchmal bleiben sie auch mitten in der Nacht stecken.

Da Tamatave eine Hafenstadt ist, bietet sich für Marion der Schiffstransport an. Die Hälfte der Biskuits gelangt so in den Süden des Landes, zum Beispiel nach Fort Dauphin. Der andere Teil fährt über den Landweg, teilweise in den «taxi brousse», wie die mit Passagieren und Waren überladenen Taxi-Busse in Madagaskar genannt werden.

«Ein Glücksfall für die Entwicklungshilfe»

Eine Backstube ins Leben rufen, Ausbildungen anbieten, Einheimische anstellen und ein durch und durch madagassisches Produkt gegen den Hunger produzieren – das ist Marions Mission: nicht nur Geld überweisen, mehr tun, als Ware zu importieren. Anders vorgehen, als dies zum Beispiel ein grosses Hilfsprogramm gegen die Hungersnot tut, dessen Repräsentanten in luxuriösen Büros und Autos sitzen und Marion vielleicht moralisch, nicht aber materiell unterstützen. «Das ist das Gegenteil dessen, was mich motiviert», sagt er.

Seit 2017 bildet Marion Lehrlinge aus. Pro Halbjahr erlangen über zehn das Diplom. Die Zahl steigt, auf die letzten Jahre hochgerechnet sind bei ihm über hundert junge Menschen ausgebildet worden. Alle Jugendlichen finden eine Arbeitsstelle. Das ist auf Madagaskar aussergewöhnlich.

Das sagt auch Franz Stadelmann. Der Schweizer Madagaskar-Kenner ist Ethnologe, arbeitete für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und führt in der Hauptstadt Antananarivo seit dreissig Jahren ein Reiseunternehmen. Er sagt: «Roland Marion ist ein Macher und kein Lobbyist. Er ist ein Glücksfall für die Entwicklungshilfe.»

Dies, auch wenn es lokale Initiativen in Madagaskar eher schwierig haben: «Solche werden dort eher bekämpft als gefördert», sagt Stadelmann, «zudem wird heimische Produktion als eher minderwertig angesehen. Was importiert wird, wird oft als besser eingestuft.»

Roland Marion aber gibt nicht auf. Für ihn heisst Afrika: ständig abstrahieren und improvisieren. Ihn beschäftigt der teilweise schwer zu ertragende Unterschied zwischen der Schweiz und Afrika. «Der Fortschritt bei uns bedeutet auch Überfluss», sagt er, «man lässt zum Beispiel Strassen reinigen, die bereits sauber sind.» Und trotzdem: «In Madagaskar sind zwar viele Menschen arm. Aber doch ist das Land irgendwie reich.»

Nun träumt Marion von der Verdoppelung der Biskuit-Menge. Doch dafür braucht er finanzielle Mittel. Und vor allem Unterstützung bei der Logistik.

Aber eben, Marion ist bereits ein halber Madagasse. Die dortige Überlebenskunst und das Improvisationstalent haben ihn angesteckt. Also lässt er weiterbacken.

Biskuit um Biskuit. 14 Gramm für ein Stück Hoffnung.

2024-06-29T03:24:23Z dg43tfdfdgfd