PLöTZLICH STEHT GIORGIA MELONI MIT DEM RüCKEN ZUR WAND

Widerstand in EU und Antisemitismus in eigener Partei: Die bisher taktisch klug agierende Regierungschefin steckt politisch fest. Was ist passiert?

Es ist keine drei Wochen her, da war die Welt der Giorgia Meloni noch in Ordnung. Doch jetzt steht sie politisch mit dem Rücken zur Wand. Im Inneren wie im Äusseren türmen sich Probleme, und es könnte gut sein, dass die Glückssträhne der Ministerpräsidentin gerade gerissen ist. Was ist passiert?

Noch bei den Europawahlen behauptete sie sich mit den von ihr gegründeten Fratelli d’Italia klar an der Spitze der italienischen Parteienlandschaft. Und wie der Zufall so spielt, hatte Meloni auch noch die G-7-Präsidentschaft inne. Direkt nach den Europawahlen reiste die Römerin in ihre bevorzugte Ferienregion Apulien, wohin sie die Staats- und Regierungschefs eingeladen hatte. Beim G-7-Gipfel aber machte die bisher taktisch klug agierende Meloni einen Fehler.

Streit um Abschlussdokument am G-7-Gipfel

Bei der Formulierung des Abschlussdokuments der G-7 verkämpfte sie sich bei einem eigentlich für die Weltläufe, bei denen es gerade um Krieg und Frieden geht, eher ungewöhnlichen Thema: dem Recht auf Abtreibung und die Verpflichtung der Staaten, den Frauen eine angemessene Unterstützung bei dieser für sie existenziellen Frage zuzusichern. Mit brachialer Gewalt, so berichteten später Verhandler anderer Staaten, habe die italienische Delegation dafür gesorgt, dass das Wort «Abtreibung» nicht ins Abschlussdokument kam, obwohl es bereits beim Vorjahresgipfel in Japan dort Eingang gefunden hatte.

Plötzlich erinnerte man sich der «alten» Meloni aus dem Wahlkampf 2022, die mit ultrarechten, nationalistischen und postfaschistischen Positionen, mit Hetze gegen Linke und Liberale, Migranten und EU-Befürworter von sich reden gemacht hatte. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz reagierte als Erster und zog noch am Gipfelort in Apulien eine klare Linie: Mit der «sehr rechten» Kollegin Meloni werde man in Brüssel nicht zusammenarbeiten.

Kein Erfolg bei Vergabe von EU-Spitzenposten

In den kommenden Tagen blitzte Meloni in Brüssel bei der Mehrheit von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen ab, die unter der Führung von Deutschland und Frankreich ihre eigene Agenda unbeirrt durchzogen und die vier Spitzenpositionen der EU unter sich aufteilten. (Lesen Sie zum Thema den Artikel «Von der Leyen für zweite Amtszeit nominiert – auch Kallas und Metsola jubeln».)

Entsprechend lehnte Meloni im Rat der 27 Staats- und Regierungschef alle Personalentscheidungen ab. Im Falle von Ursula von der Leyen, der von ihr früher geschätzten EU-Kommissions-Präsidentin, enthielt sie sich. Anschliessend twitterte sie, die Entscheidungen des EU-Rats seien «methodisch und inhaltlich falsch. Ihr Land müsse das Gewicht bekommen, das ihm in Europa zustehe.

Doch Meloni ist, wie ihr Freund Viktor Orban aus Ungarn, nicht nur in der Minderheit, sondern wird zunehmend zur Aussenseiterin. Eine Position, die das EU-Gründungsmitglied Italien nicht gewohnt ist und die dem Land nicht zuträglich ist, das zuletzt 200 Milliarden Euro EU-Aufbaugelder bekommen und noch zu erwarten hat. Das könnte innenpolitisch zum Problem werden.

Ohnehin hat die lange Zeit demoralisiert wirkende Opposition gerade durch die Kommunalwahlen Aufwind bekommen. Die Sozialdemokraten konnten die meisten Grossstädte gewinnen – die erste ernsthafte Niederlage, seitdem Meloni vor zwei Jahren die nationalen Wahlen so überzeugend gewonnen hat.

Rassismus in Melonis Jugendorganisation

Melonis Kritiker können sich auch durch ein bedrückendes, neues Thema bestätigt fühlen. Journalisten haben Zugang zu Melonis Jugendorganisation Gioventù Nazionale gefunden und offen faschistische, rassistische und antisemitische Äusserungen dokumentiert. Bei den Mitgliedern handelt es sich um hervorgehobene Personen wie eine Vorstandsfrau der Organisation, die als Nachwuchstalent galt, und um die Büroleiterin einer Parlamentsabgeordneten der Fratelli d’Italia.

Meloni reagierte noch von Brüssel aus, in der Nacht, nachdem sie bei den anderen EU-Staaten mit ihrem Wunsch nach Mitsprache abgeblitzt war. Sie verurteilte die Vorfälle kompromisslos, unter anderem mit den Worten: «Rassisten, Antisemiten und Faschismus-Nostalgiker haben in unserer Partei nichts verloren.» Aber es war bereits zu spät.

Seitdem gibt es immer neue Berichte, Tonbandmitschnitte und Videos. Unter anderem wurde auch die Senatorin Ester Mieli, Tochter eines Holocaust-Überlebenden und ehemalige Sprecherin der jüdischen Gemeinde Roms, verächtlich gemacht. Mieli ist für die Fratelli d’Italia in der zweiten Parlamentskammer. Mitglieder der Parteiführung entschuldigten sich bei ihr.

Grosse alte Dame des Judentums zeigt sich besorgt

Am Wochenende äusserte sich tief besorgt die grosse alte Dame des italienischen Judentums, Liliana Segre – nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das als Meloni-gesteuert gilt, sondern in einem Privatsender: Was plötzlich alles wieder gesagt werden dürfe, beklagte Segre, und ob sie damit rechnen müsse, bald wieder aus «meinem Land» vertrieben zu werden.

Die heute 93-Jährige ist eine allseits geachtete Zeitzeugin, sie hat das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt, viele ihrer Verwandten sind in den Gaskammern ermordet worden. Ihre Intervention trifft das Meloni-Lager hart, auch weil die Mailänder Familienunternehmerin mit Fratelli-d’Italia-Funktionären gut bekannt ist, namentlich mit Melonis engem Parteifreund, dem Senatspräsidenten Ignazio La Russa. Dieser muss nun gemeinsam mit Meloni versuchen, in Italien die Wogen zu glätten.

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