DIE EM IST FüR DIE MENSCHEN NOCH KEIN MäRCHEN, EIN LICHTBLICK ABER SCHON

Die Deutschen, politisch und gesellschaftlich von Abstiegsängsten gebeutelt, sehnen sich nach Erlösung durch ein rauschendes Sportfest. Die Stimmung könnte bisher kaum besser sein.

In den Tagen vor und nach Anpfiff dieser Europameisterschaften im Fussball war die Frage kaum auszuhalten: Wird es denn jetzt wieder ein «Sommermärchen»? Ist es das schon? Zur Hälfte? Oder wenigstens zu einem Drittel? Mit den Antworten war es kaum besser: Was sollte man denn erwidern? Dass zauberhafte Geschichten Zeit brauchen, um sich zu entfalten? Dass sich Hochstimmung nicht anknipsen lässt wie ein Fernsehbild?

Die Erwartung eines Sommermärchens 2.0 war gleichermassen verständlich wie unvermeidlich – und doch ziemlich verrückt. Der Vergleich mit den Weltmeisterschaften vor 18 Jahren ist jedenfalls schiefer, als viele meinen. 2006 wurde unerwartet zu einem begeisternden Fest, für Gastgeber Deutschland wie für Gäste aus der ganzen Welt.

In vier sonnenverwöhnten Wochen entdeckte die Welt Deutschland damals als «Freund», wie der Werbeslogan versprach, und das Land sich selbst als entspannte, freundliche, weltoffene Macht. Nach Misserfolgen spielten die Deutschen auf einmal frischen, hoffnungsfrohen Fussball und feierten am Ende ihren dritten Platz wie einen Titel. Nach Jahren von Massenarbeitslosigkeit und Tristesse begann damals mit Angela Merkel (und Jogi Löw) ein Aufbruch, der Deutschland zu einem Jahrzehnt voller Erfolge führen sollte.

In Deutschland bedeutet der Fussball etwas

Diesmal fällt das Turnier zu Hause mitten in eine tiefe Krise, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich, sportlich, mental. Eine Krise, von der niemand weiss, wie tief sie noch reichen und wie lange sie noch andauern wird. Die selbst ernannte «Fortschritts»-Regierung von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen ist längst zu einem Bleigewicht für die Entwicklung des Landes geworden. Handlungsunfähig, betreut von einem sprachlosen Kanzler, wartet sie auf ihre Ablösung bei den nächsten Wahlen, die aber erst auf Herbst 2025 angesagt sind. Ökonomisch ist Deutschland keine Lokomotive mehr, die die europäischen Nachbarn mitzieht, sondern ein Ballast, der den ganzen Zug bremst.

Sportlich waren die Jahre ab der WM 2018 eine Ära von Hybris und Misserfolgen. Mit dem jungen Trainer Julian Nagelsmann haben sich die Fussballer im allerletzten Moment gefangen. Nach einigen kleineren Erfolgen (und vielen Wacklern) scheint an der EM ein Wiederaufstieg an die Spitze zumindest möglich.

Und nun? Nach zwei Wochen Fussball in Deutschland steht fest: Diese EM war und ist bereits ein Fest! Das deutsche Team brachte die Sause mit einem Torspektakel in Fahrt und zeigte danach mit zwei ordentlichen Spielen gegen Ungarn und die Schweiz, dass es zumindest in der erweiterten Oberklasse wieder mithalten kann.

Interesse, ja Begeisterung für dieses Turnier sind in Deutschland jedenfalls gewaltig, was sich nicht nur an TV-Quoten und überfüllten Fanzonen ablesen lässt. Noch wichtiger ist, dass auch die Gäste feiern und jubeln fast ohne Grenzen. Mitten in einem fussballverrückten Land mitten in Europa treffen sich Hunderttausende Fussballverrückte vom ganzen Kontinent – nicht an einer erfundenen Spielstätte wie Katar.

Die schottischen und niederländischen Fans mit ihren Röcken, Dudelsäcken, Oranjeschwaden entzücken nicht nur die eigenen Teams, sondern Köln, Berlin, München und das ganze Land. Dank den Deutsch-Türken hat Deutschland mit der türkischen sogar eine Art zweite Heimmannschaft. Quer durch das Land wogen Leidenschaft und Freude, und sei es nur wegen einiger Fussbälle, die ins Tor fliegen – wer könnte mehr wünschen?

Natürlich, ein paar Probleme gibt es schon: Fans suchen den Streit mit anderen Fans oder Polizisten, beim Jubeln kommt es zu Unfällen – bisher waren das aber Einzelfälle. Auch von Anschlägen blieb das Turnier bislang verschont. Logistisch bedenklicher ist die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn. Viele Fans beklagen sich über Verspätungen, liegen gebliebene oder überfüllte Züge. In ärmeren Städten wie Gelsenkirchen war auch der Tramverkehr überfordert.

Ein Europameister namens Deutschland?

Die Deutschen ärgern sich über ihre kaputtgesparte Bahn, die 2006 noch ein Stolz des Landes war, schon etwas länger, haben aber gelernt, zeternd und improvisierend damit umzugehen. Dass jetzt ganz Europa die Misere wahrnimmt, schmerzt das Land aber noch einmal neu.

Und nun? Ist diese EM für Deutschland bloss ein Lichtblick in düsterer Zeit? Oder kann daraus doch noch ein Märchen werden, jetzt da das Turnier in seine entscheidende Phase tritt? Ein Europameister namens Deutschland hätte bestimmt etwas Wundersames. Viel grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese EM als ein Moment gesamt-europäischer Leidenschaft in Erinnerung bleibt – wer immer am Ende gewinnt.

Deutschlands Krisen werden danach immer noch da sein. Vielleicht länger, als mancher gerade denkt.

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