MAURICE CHAPPAZ HAT ES KOMMEN SEHEN: DIE UMWELTSCHäDEN IM WALLIS SIND AUCH SELBSTGEMACHT. VON DER POLITIK

Maurice Chappaz hatte es den Wallisern doch gesagt in seinem heiligen Zorn! Dass ihre Flussbetten zu eng sind, die Hotelbaracken zu hoch, die Waldschneisen zu breit. Und sie selbst seien zu gierig, sagte Chappaz, seien Räuber der Landschaft und Heimat!

1976 schrieb der Walliser Dichter und Autor Maurice Chappaz in der Streitschrift «Les Maquereaux des cimes blanches» – «Die Zuhälter des ewigen Schnees» – ein Gedicht über zwei Fische in der Rhone, für das er von den Pfaffen in der Kirche verflucht wurde, von den Waschweibern verspottet und von einem Bauern, wahrhaftig, mit dem Traktor verfolgt.

In Siders, wo ich wohne, war’s,

Da sind den Rotten auf

Zwei Fische kommen

Sagten

So man Natur erhalten will,

muss man den Menschen töten.

Und jetzt ist dieses Siders überflutet, von der Rhone überschwemmt. Am Wochenende ist der Bergkanton Wallis von Chappaz’ Prophezeiungen und der Übermacht der Natur eingeholt worden: In Geschinen, Saas-Grund, Getwing und anderswo schossen Flüsse über die Ufer und überschwemmten Wohngebiete und Wiesen. Gerölllawinen verschütteten Häuser, Ställe und Autos, und wildgewordene Bäche brausten ins Tal und rissen ganze Strassen weg. Sie brachten Unheil und Tod.

In Siders, wo Chappaz viele Jahre lebte, hat die Rhone ganze Stadtgebiete überflutet, auch die Industriezone, Sportplätze, die Autobahn. Es sind vielleicht die schlimmsten Unwetter in der Geschichte des Kantons. Schlimmer als das Katastrophenjahr 2000.

Chappaz, der 2009 mit 92 Jahren gestorben ist, hat zeitlebens in prophetischem Ton angeschrieben gegen die Zerstörung der Natur für den Massentourismus, hat klangvoll geschimpft gegen die schneidigen Immobilienfuzzis, gierigen Beamten und windigen Hoteliers, gegen die Advokaten und Politiker. Er hat gewarnt vor dem Ausverkauf der Heimat, vor der Veräusserung der Kulturlandschaft, vor der Erschliessung der noch letzten Maiensässe. Die Natur werde zurückschlagen.

Und im Wallis weiss man nach diesem traurigen Wochenende: Die Unwetter sind nicht nur Schicksal, sondern auch selbstgemacht, menschengemacht. Sie sind, wie Chappaz sagen würde: «politikergemacht».

Die Walliser Politiker hätten die Rhone längst ausweiten und vertiefen sollen, um die Menschen im Talgrund zu schützen. So sieht es die Rhonekorrektur vor, ein Milliardenprojekt, das seit zwanzig Jahren geplant ist, von Experten gestützt und 2015 vom Stimmvolk angenommen wurde. Doch der SVP-Staatsrat Franz Ruppen bekämpft die Renaturierung seit Jahren, zuerst in der Funktion als Grossrat, weil er die Wählerstimmen der Bauern wollte, die Landverlust fürchteten. Und seit 2021 als zuständiges Mitglied der Regierung. Ruppen hat das Projekt quasi sistiert.

Das Milliardenprojekt der Rhonekorrektion

Das Projekt sei überdimensioniert, sagte Franz Ruppen noch vor Wochen, die Hochwasserrisiken seien zu hoch eingeschätzt worden. Es brauche eine «Interessenabwägung». Maurice Chappaz hätte allein wegen dieses Wortes einen fürchterlichen Ausschlag bekommen.

Nun ist Franz Ruppen, geht man nach Chappaz, eingeholt worden von der natürlichen Vorsehung. Seine Politik und sein Kalkül sind durchtränkt worden vom Begehren eines Flusses. Ruppen und seine Gefolgschaft, die im Parlament das kantonale Umweltgesetz verhindern wollen und sich gegen jeden Klimaschutz sträuben, stehen nun «neben den Gummistiefeln», wie der «Walliser Bote» am Montag schrieb. Und es ist, als hätte man das alles wissen müssen.

Als Maurice Chappaz «Die Zuhälter des ewigen Schnees» veröffentlicht hatte, wurde er von der rechtskonservativen Lokalzeitung «Le Nouvelliste» verteufelt. «Intellektuelle Kurzsichtigkeit, Landesverrat, Plattheit» wurde ihm vorgeworfen. «Es sind verrenkte Grimassen eines Clowns. Das Wallis hat seine Gangrän und sein Krebsgeschwür: Maurice Chappaz.»

Und auch heute wird im Wallis kaum etwas derart verdammt wie Naturschützer, Grüne und jene, die vor dem Klimawandel warnen.

Chappaz, ein sprachgewaltiger Vagabund mit antiaufklärerischen Tendenzen, arbeitete für den Broterwerb auch als Rebbauer und Hilfsgeometer und hauste in kleinen Hütten, er lebte nicht nur in der Natur, sondern mit ihr. In den Hochzeiten der Walliser Industrialisierung lieferte er sich jahrelang Scharmützel mit denen, die er als «Ausverkäufer meines Landes» betrachtete.

Sie hätten ihre Böden feilgeboten und ihre Mütter, schrieb Chappaz. Und sogar dies: «Die Stille ist gestern an die Armee verkauft worden, die Sonne ebenfalls. Auch die Luft, verkauft, nur auf 4000 Metern hat es noch ein kleines Lager. Und den Schnee? Nehmen sie auch den Schnee? Ja, sie nehmen auch den Schnee.»

Chappaz hatte das Wallis schon Jahre früher mit einer sintflutartigen Erzählung gegen sich aufgebracht. Im Büchlein «Match Valais - Judée» schuf er ein imaginäres Theatergebäude des sakrosankten Wallis: Die katholische Kirche feiert in der Hauptstadt Sitten ihr 2000-Jahr-Jubiläum, und die mächtigen Walliser Kirchenoberhäupter und Politiker kämpfen gegen die Apostel, Könige und Propheten der Bibel. Und alles endet im wollüstigen Sauf- und Fressgelage. Der allmächtige Gott will daraufhin alle mit der Sintflut bestrafen, doch er gibt ihnen eine letzte Chance. Man müsse nur den Teufel fangen. Dann bestehe der Kanton noch tausend Jahre weiter.

Der Rücktritt des Politikers?

Chappaz, ein Poet der Flüsse, Berge und Reben, würde die Überflutungen des Wochenendes als eine letzte Chance für ein Wallis betrachten, dem Wahlerfolg und Profit wichtiger sind als der Schutz der Menschen und die Achtung der Natur. Und dann würde Chappaz, ungehemmt und frei, den Rücktritt der Politikerkaste fordern.

Es dauerte damals Jahre, bis das Wallis begriff, was es an Chappaz hat. Erst spät wurde er geehrt und gefeiert, rehabilitiert, ausgezeichnet mit vielen Preisen, darunter dem Schillerpreis, wurde von Bundesräten und Zeitungen gelobt – und bildete mit seiner Frau S. Corinna Bille ein ebenbürtiges, geniales Paar der Schweizer Literatur.

Chappaz’ eigenwilliger Übersetzer Pierre Imhasly schrieb im Nachwort zu «Die Zuhälter des ewigen Schnees» – und auch dies ist mit Blick auf die Verwüstungen und Verwerfungen dieser Tage zu lesen: Chappaz habe durch das wie Unkraut verbreitete Streben nach Prosperität sein ursprüngliches Wallis verloren. Sollte es, ausgelöst durch das Verderben der Welt, dereinst ein neues Wallis geben, würde es Chappaz gehören. Und allen, die denken und fühlen wie er.

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