WOCHEN VOLLER FEUER UND BLUT – WAS EIN KRIEG ZWISCHEN ISRAEL UND DEM HIZBULLAH ANRICHTEN KöNNTE

Von einem drohenden Krieg ist in Beirut bisher nicht viel zu spüren. Die Bars in der libanesischen Hauptstadt sind brechend voll, am Flughafen landen Maschinen mit ganzen Familien von Exil-Libanesen, die es sich nicht nehmen lassen, den Sommer in der alten Heimat zu verbringen. Die demonstrative Gelassenheit der Menschen in Beirut geht so weit, dass sich inzwischen sogar Hizbullah-Vertreter darüber ärgern.

Es gehe nicht, dass manche fröhlich am Strand lägen oder in Nachtklubs gingen, während im Süden gekämpft werde, schimpfte der Abgeordnete Mohammed Raad, dessen eigener Sohn im Herbst bei einem israelischen Drohnenangriff ums Leben kam, während einer Rede. «Dieser selbstverliebte Individualismus zerstört die Interessen der Nation», sagte der Vertreter jener Truppe, die den Krieg im Oktober ungefragt vom Zaun gebrochen hatte.

Die stärksten Kriegsmaschinerien des Nahen Ostens

Viele Libanesen reagierten mit Spott auf Raads Äusserung. Doch das Lachen könnte ihnen bald vergehen. Seit Wochen bewegen sich Israel und der Hizbullah, die sich an der gemeinsamen Grenze immer heftiger beschiessen, auf einen offenen Krieg zu. Zwar versuchen Amerikaner und Franzosen, eine Verhandlungslösung zu finden. Sollten diese Versuche jedoch scheitern, drohen Libanon und Israel in einem Feuersturm zu versinken.

An der Grenze der beiden Länder stehen sich die vermutlich stärksten Kriegsmaschinerien des Nahen Ostens gegenüber. Auf der einen Seite Israels Armee mit ihrer hochmodernen Luftwaffe und ihren durch monatelange Gefechte in Gaza inzwischen kampferprobten Soldaten. Auf der anderen die von Iran unterstützte Schiitenmiliz Hizbullah, deren Kämpfer jüngst in Syrien Erfahrungen sammelten und die über mehr Raketen und Drohnen verfügt als so manche Armee in Europa.

Ein offener Krieg könnte auf beiden Seiten verheerende Schäden anrichten. Vor allem dann, wenn sich der Hizbullah entschliessen sollte, sein massives Raketen- und Drohnenarsenal gegen Israel einzusetzen. Niemand weiss genau, über wie viele Geschosse die Miliz tatsächlich verfügt. Experten gehen aber davon aus, dass es sich um mehr als 100 000 handelt. «Allerdings ist die grosse Mehrheit davon nicht sehr präzise», sagt der auf den Nahen Osten spezialisierte Militärexperte Michael Knights vom Washington Institute.

Israels Abwehrsysteme wären überfordert

Trotzdem dürfte das erwartete Stahlgewitter in Nordisrael massive Zerstörungen anrichten. Zudem verfügt der Hizbullah über sowjetische Scud-Raketen und eine begrenzte Anzahl iranischer Präzisionsgeschosse vom Typ Fateh-110. Diese weiter reichenden Waffen können gegen Militäreinrichtungen eingesetzt werden – aber auch gegen Bevölkerungszentren, Häfen und Flughäfen. «Israels Militärflughäfen sind dank ihrer verstärkten Bauweise aber ziemlich gut geschützt», sagt Knights. «Zudem kann das Militär Schäden schnell beheben.»

Israel verfügt über kampferprobte Abwehrsysteme wie Iron Dome, David’s Sling oder Arrow. «Bei Mittelstreckenraketen dürfte die Abschussquote wohl ziemlich hoch liegen», sagt Knights. Bei einem Trommelfeuer von bis zu 3000 Kurzstreckenraketen pro Tag wäre hingegen der Iron Dome schnell überfordert. Auch deshalb sind die Israeli dringend auf amerikanische Unterstützung und Nachschub angewiesen.

Israels Militärs und Politiker geben sich nach aussen hin zuversichtlich und kampfbereit. Doch viele Experten im Land warnen inzwischen vor einem Krieg im Norden. Der Chef einer israelischen Elektrizitätsfirma löste kürzlich Panik aus, als er behauptete, der Hizbullah könne ohne weiteres Israels Stromversorgung lahmlegen. Zwar nahm er seine Aussage sofort wieder zurück – dennoch stieg offenbar die Nachfrage nach privaten Stromgeneratoren.

Libanon würde es noch schlimmer treffen

Die israelische Reichman-Universität hatte schon 2023 in einer umfassenden Studie untersucht, wie sich ein Grosskrieg gegen den Hizbullah auswirken könnte – und zeichnet ein finsteres Bild: Israel müsse mit Tausenden zivilen Toten rechnen, die Kommunikationsnetzwerke im Land könnten zusammenbrechen, ebenso die zivile Infrastruktur. Im Norden könnten eindringende Hizbullah-Kommandos für Angst und Schrecken sorgen. Wochen voller Blut und Feuer stünden bevor, so kommentierte ein israelisches Online-Magazin den Bericht.

Noch schlimmer dürfte es Libanon treffen. Denn im Gegensatz zu Israel existiert in dem wirtschaftlich kaputten Land längst kein Staat mehr. Im Falle eines Krieges würde Israel wohl als Erstes versuchen, die überall im Land verteilten Raketenbasen und Militäranlagen des Hizbullah mit Luftangriffen zu zerstören. In welchem Umfang das gelingen kann, ist schwer zu sagen. «Allerdings bereitet sich Israel seit Jahren auf einen Kampf mit dem Hizbullah vor», sagt Michael Knights.

Dies wäre möglicherweise aber nur die Ouvertüre. 2006, im letzten Krieg, bombardierten israelische Jets den einzigen Flughafen des Landes, zerstörten Brücken und Autobahnen. Diesmal dürften die Angriffe noch heftiger ausfallen. Ein offener Schlagabtausch würde in dem schwer angeschlagenen, schon jetzt unter der Last von rund zwei Millionen syrischen Flüchtlingen ächzenden Land eine gewaltige humanitäre Krise auslösen.

Chaos und Eskalation

Zudem könnte ein Krieg bestehende Fliehkräfte verstärken. Vor allem viele libanesische Christen hegen seit langem einen Groll gegen den mächtigen Hizbullah, den sie für den Niedergang ihres Landes verantwortlich machen. Libanon könnte im Kriegsfall deshalb komplett auseinanderbrechen und in einzelne, von konfessionellen Milizen beherrschte Kantone zerfallen, so wie das bereits während des Bürgerkriegs der achtziger Jahre der Fall war.

Zudem bestünde die Gefahr, dass sich ein Krieg auf die Region ausweitete. Iran oder verbündete Milizen aus Syrien und dem Irak könnten dem Hizbullah zu Hilfe kommen. Auf Israels Seite könnten wiederum die Amerikaner in den Konflikt hineingezogen werden, denen es im Oktober offenbar erst in letzter Minute gelungen war, die Israeli von einem Präventivschlag gegen die libanesische Miliz abzuhalten.

Auch deshalb glauben Experten wie Knights, dass die Chance eines totalen Krieges eher gering ist. Weder das innenpolitisch gespaltene Israel noch der Hizbullah und dessen Teheraner Sponsoren hätten ein wirkliches Interesse daran: «Vor allem die Iraner scheinen nicht darauf erpicht, das Waffenarsenal des Hizbullah für die Palästinenser in Gaza aufs Spiel zu setzen», sagt er.

«Es reicht, dass bei einem Angriff israelische Zivilisten ums Leben kommen»

Trotzdem ist ein begrenzter Waffengang durchaus vorstellbar. Israel hat immer wieder angekündigt, den Hizbullah von der gemeinsamen Grenze zurückdrängen zu wollen. «Das könnte durch verstärkte Luftangriffe oder auch durch eine begrenzte Bodenoffensive geschehen», sagt Knights. Zudem biete sich Israel derzeit die Gelegenheit, den Hizbullah entscheidend zu schwächen. «Ganz nach dem Motto: Man erntet am besten dann, wenn die Sonne scheint.»

Selbst wenn keine der beiden Seiten einen Krieg will, besteht angesichts der immer heftiger werdenden Grenzgefechte das Risiko einer ungewollten Eskalation. «Es würde reichen, dass etwa bei einem Hizbullah-Angriff eine grössere Zahl israelischer Zivilisten ums Leben kommt, damit die Lage ausser Kontrolle gerät», sagt Knights. Angesichts dessen sind badende und feiernde Libanesen eigentlich das kleinste Problem für die Hizbullah-Führung.

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