NEUES SEXUALSTRAFRECHT TRITT IN KRAFT: ZüRICH IST GUT VORBEREITET, AARGAU WENIGER

Nein heisst Nein: Das gilt ab 1. Juli, denn dann tritt in der Schweiz das neue Sexualstrafrecht in Kraft. Während sich Kantone wie Bern oder Zürich mit Spezialteams auf die Umsetzung vorbereitet haben, hinken andere hinterher.

Auf dem Tisch des Instituts für Rechtsmedizin in Zürich liegt eine pastellgrüne Kartonbox. Sie kam mit der Post. Darin befinden sich Röhrchen für Fingernagelschmutz, Messwinkel für Wunden und Aufbewahrungsbeutel für Unterwäsche – alles Hilfsmittel, die Opfern von sexualisierter Gewalt besser zu ihrem Recht verhelfen sollen. 

Grund ist ein historischer Entscheid. Absolut unglaublich nannten es manche Medien sogar, als der Bundesrat vor einem Jahr das neue Sexualstrafrecht verabschiedete. Die sogenannte Nein-heisst-Nein-Lösung tritt am Montag in Kraft. Eine Gesetzesrevision, die wesentliche Änderungen mit sich bringt: Vergewaltigung ist nun geschlechtsneutral definiert, sie betrifft nicht mehr – wie bisher – ausschliesslich Frauen oder Mädchen. Zudem liegt der Fokus stärker auf Tatpersonen, die zusätzlich zur Strafe dazu verurteilt werden können, Lernprogramme und Gewaltberatungen zu besuchen. 

Und: Gewalt oder Zwang sind künftig keine Voraussetzungen mehr dafür, eine Tat als Vergewaltigung zu werten. Es muss auch nicht mehr nachgewiesen werden, dass sich ein Opfer gewehrt hat. Wenn der oder die Betroffene nonverbal zu verstehen gibt, dass die sexuelle Handlung nicht einvernehmlich ist – also durch Wegdrehen oder Weinen – genügt das. Auch das sogenannte Freezing, die Schockstarre, wird neu als Anzeichen von Widerstand gewertet. 

Fingernagelschmutz, Wunddokumentation und Spermaspuren

Steht eine von sexueller Gewalt betroffene Person unter Schock, möchte sie vielleicht im ersten Moment keine Anzeige erstatten, den Vorfall aber dennoch dokumentieren lassen. Wenn sie dazu ein Spital aufsucht, kommt die pastellgrüne Schachtel ins Spiel: Im Kanton Zürich können Kliniken speziell ausgebildete Fachkräfte zur Dokumentation einer Vergewaltigung hinzuziehen, sogenannte Forensic Nurses. Die untersuchen Betroffene dann mit Hilfsmitteln aus der Box und sichern dabei wichtige Spuren. Die forensische Pflegefachperson sucht beispielsweise unter den Fingernägeln nach Spuren, dokumentiert Wunden, fahndet nach Sperma – und schaut dabei immer genaustens, dass sie die DNA-Proben nicht mit eigenem Erbmaterial kontaminiert. Bisher war das nur möglich, wenn eine Polizistin oder ein Polizist anwesend war. 

Nach der Untersuchung, die etwa zwei bis drei Stunden dauert, wird die Box versiegelt und aufbewahrt: «Damit soll es den Opfern ermöglicht werden, auch zu einem späteren Zeitpunkt Anzeige erstatten zu können», sagt SVP-Regierungspräsidentin Natalie Rickli (47), Vorsteherin der Gesundheitsdirektion. «Mit dem Zürcher Modell werden Opfer von den Forensic Nurses auch ohne eine Anzeige bei der Polizei umfassend betreut, durch eine professionelle Spurensicherung und eine empathische Beratung.»

Dominice Häni (40) und Valeria Kägi (39) sind Co-Leiterinnen des CAS Forensic Nursing am Institut für Rechtsmedizin in Zürich und Mitarbeiterinnen eines Pilotprojekts, das der Kanton – in Zusammenarbeit mit der Gesundheitsdirektion, der Direktion der Justiz und des Innern sowie der Bildungsdirektion – lanciert hat: Seit rund drei Monaten können bislang 14 Zürcher Spitäler den Dienst zur forensischen Spurensicherung in Anspruch nehmen – 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr: «So sollen Opfer sexueller und häuslicher Gewalt die benötigte forensische Untersuchung niederschwellig und in hoher Qualität erhalten», sagt Nadja Weir, Zürcher Kantonspsychiaterin. 

«Es geht nicht darum, dass wir die Polizei, die Ärzte oder die Opferberatung ersetzen. Die Spitäler haben einfach die Möglichkeit, uns zusätzlich als Unterstützung für die Spurensicherung zu holen.» Häni und Kägi sehen sich eher als Brückenbauerinnen, als Bindeglieder zwischen den einzelnen Parteien: Oftmals wissen Ärzte nicht, wie die Polizei organisiert ist – und umgekehrt. «Was passiert mit einer gewaltbetroffenen Person nach der Spurensicherung? Du kannst ihr nicht einfach die Hand schütteln und gehen. In so einer vulnerablen Phase musst du sicherstellen, dass sie weiss, was es für weitere Möglichkeiten gibt, zum Beispiel die Opferberatungsstelle», so Kägi.

Entstanden ist das Projekt auf Grundlage der Istanbul-Konvention von 2018, das die Schweiz unterzeichnet hat: ein Übereinkommen des Europarats, das Frauen und Mädchen vor verschiedenen Formen von Gewalt schützt. «Unser Ziel ist es, die Dunkelziffern von sexualisierter Gewalt in ein helles Feld zu holen», sagt Häni.

Nicht alle Kantone sind ausreichend vorbereitet

Neben der Beratung und Betreuung ist die Täterarbeit ein wichtiger Bestandteil der Gesetzesänderung. Um Rückfälle zu vermeiden, setzt das neue Gesetz auf Prävention: Täterinnen und Täter können zu einem Lernprogramm verpflichtet werden. Dazu trainieren sie Kompetenzen wie beispielsweise Selbstkontrolle, Ärger- und Stressbewältigung. Neu gilt das auch für Täter, die der sexuellen Belästigung beschuldigt wurden.

Grundsätzlich obliegt die adäquate Umsetzung des neuen Sexualstrafrechts den Kantonen. Während Zürich, Bern und auch die Romandie insgesamt gut vorbereitet sind, zeigt sich anderswo ein unterschiedliches Bild: Der Kanton Aargau gibt an, dass sich die Lernprogramme für die Täterarbeit erst im Aufbau befinden. In Appenzell Ausserrhoden heisst es: «Appenzell Ausserrhoden wird, wie die umliegenden Kantone, die vorgesehenen Lernprogramme vorerst extern einkaufen.» Schwyz gibt an, «bestens vorbereitet» zu sein. Glarus und Graubünden haben trotz mehrmaliger Nachfrage nicht reagiert. Auch der Thinktank Reatch kommt zum Schluss, dass die Romandie weiter fortgeschritten ist als die Deutschschweiz. Vor allem in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Glarus und Obwalden gibt es laut dem Bericht kaum Bemühungen.

Bei der Konferenz der Kantonalen Leitenden Justizvollzug, die die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Justizvollzugsanstalten der Kantone sicherstellt, heisst es auf Anfrage: «Bis ein Lernprogramm vorliegt und die Mitarbeitenden geschult sind, werden andere Lösungen gesucht, zum Beispiel die betreffende Person einer therapeutischen Fachperson zugewiesen.»

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