WARUM MAMA VERRüCKT WURDE

Beim Wettlesen in Klagenfurt erforschen die Autoren in diesem Jahr die Schmerzen ihrer Eltern. Auch Tijan Sila, der damit den Bachmannpreis gewinnt.

Ein Literaturwettbewerb wäre kein anständiger Literaturwettbewerb, wenn man nicht auch mit ein paar hübschen neuen Begriffen und Metaphern nach Hause fahren würde. «Der Text hat ein Sonntagsgwandl an», wird als Beobachtung des neuen Juryvorsitzenden Klaus Kastberger bleiben, auch die Überlegung «Was macht die Angst am Strand?» und das Bild einer in der Mikrowelle explodierenden Schüssel Moussaka, ein Fussballprofi, der sich Milchstaubrüsten widmet. Man lernt dann noch, wo das Gurkerl in Österreich auf der Semmel zu liegen hat, nämlich zwischen zwei Wurstscheiben, auf keinen Fall in Berührung zur Semmel, sonst sapscht es diese voll. Aber zum Gurkerl später.

Erst zu Tijan Sila, der den Bachmannpreis gewinnt, nach drei Tagen Wettlesen in Klagenfurt vor einer siebenköpfigen Jury. In seinem Text «Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde» fährt eine Figur namens Tijan nach Hause zu den Eltern und muss feststellen, dass beide mindestens wunderlich geworden sind. Die Familie ist einst aus Sarajevo und dem Krieg geflohen, die Mutter verfällt der Schizophrenie, der Vater einer Sammelwut. In der kleinen Wohnung türmen sich kaputte Stereoanlagen: «‹Wenn du wüsstest, was wir damals in Jugoslawien für diese Lautsprecher gegeben hätten’, sagt er, als sei es eine Rechtfertigung. ,Aber die sind doch alle kaputt, Papa.’ ,Man kann alles reparieren.’» Sagt der Vater. Dass dem natürlich nicht so ist, weiss jeder. «Der Krieg ist vorbei und ist nicht vorbei», sagt Jurorin Mithu Sanyal.

Transgenerationale Traumata, das ist das grosse Thema in diesem Jahr. Tijan Sila, selbst 1981 ihn Sarajevo geboren, schrieb schon in dem Roman «Radio Sarajevo» (Hanser) von einer Kindheit im Jugoslawienkrieg. Er findet eine fein lakonische Sprache, ohne Ornament und Pathos, treffsicher führt er seine Zuhörer in die Herzen der zwei versehrten Eltern, deren Schmerz er betrachtet. «Einen Wimpernschlag lang war ich gewillt, mit ihr wahnsinnig zu sein, damit sie nicht aufhörte, mich zu lieben», sagt der Erzähler über seine Mutter. Sein Sieg schien eine eindeutige Sache gewesen zu sein, schon in der Diskussion war sich die Jury erstaunlich einig.

2023 waren elf von zwölf Texten beim Bachmannpreis aus der Ich-Perspektive geschrieben, die meisten autofiktional. Autofiktional sind auch diesmal mindestens die Hälfte. Aber das Ich bestaunt nicht mehr nur sich selbst, es bestaunt in diesem Jahr auffallend oft die Eltern und die – meist problematischen – Beziehung zu ihnen. Es geht um alternde oder kranke Eltern, eine Figur streitet sich am Bett ihrer sterbenden Grossmutter mit ihrer Mutter. Eltern, die geflohen sind vor Krieg oder aus der DDR, Eltern, die nicht fliehen konnten und eine Versehrtheit in sich und auch ins Leben ihrer Kinder tragen, welche jetzt in Klagenfurt an diesem weissen Pult sitzen und Texte darüber vorlesen.

Therapeuten undSchweigeexerzitien

Was auffällt: Die Erzähler bleiben vernünftig, sie rasten nicht aus, sie zerbrechen nicht an diesem Erbe, nicht in letzter Konsequenz. «Bleib ruhig, bleib cool, bleib stabil, bleibt stark», spricht die Figur Tijan zu sich selbst, «mein Satz bewahrte mich jedenfalls schon seit Jahren vor der Blamage eines Gefühlsausbruchs». Diese Generation, sie ist selbstbewusst, sucht Lösungen und Wege, aus den Traumata auszubrechen.

«Inzwischen habe ich einen Haufen Schotter bei Psychotherapeuten, Kinesiologen, ganzheitlichen Bewusstseinsgurus, traditionellen chinesischen bzw. japanischen Medizinern, Essstörungs-, Familienaufstellungs-Experten sowie Schweigeexerzitien bei den Töchtern des göttlichen Erlösers in der Jacquingasse deponiert», schreibt auch Tamara Štajner. «Luft nach unten» ist eine verzweifelte Rede an eine Mutter, eine ebenfalls vom Jugoslawienkrieg verhärtete Frau, die an ihre Tochter weitergibt, was sie selbst nicht auflösen konnte. Štajner hat den undankbaren allerletzten Leseplatz am Samstagnachmittag. Vielleicht ist es der Anspannung geschuldet, vielleicht aber doch einer gewissen biografischen Nähe zur Protagonistin, die sie beim Lesen in Tränen ausbrechen lässt. Die Jury schaut bedröppelt zu.

Ein Autor liest und sieben Juroren diskutieren, während der Autor dem Urteil zu lauschen hat – der Bachmannpreis ist in seiner Art skurril und bieder, aber darin einzigartig. Man muss es dem ORF hoch anrechnen, dass er den kompletten Wettbewerb live im linearen Fernsehen auf 3Sat überträgt. 17 Stunden Literatur sind das in vier Tagen, und, noch krasser, 17 Stunden sprechen über Literatur. Während die hiesigen Rundfunkanstalten ein Kulturformat nach dem anderen in sogenannten «Programmreformen» versenken, bleibt der ORF diesbezüglich noch stabil. Selbst Klagenfurts Bürgermeister Christian Scheider (Team Kärnten; ehemals FPÖ), der wie jedes Jahr die ganze angereiste Riege von Lektorinnen, Agenten, Autorinnen und Journalisten zum Empfang ins Schloss am Wörthersee bei Sonnenuntergang und Schnitzel lädt, versicherte, auch weiterhin den Wettbewerb sowie die Übertragung des Wettbewerbs im Fernsehen zu unterstützen.

Wenig Dialoge, kein Sex, kein Schmutz, wenig Witz

Nach drei Tagen Übertragung bleibt der Eindruck: Der 2024er Jahrgang, er ist ein braver. Nur selten wagt sich ein Autor oder eine Autorin inhaltlich über die eigene Lebenswelt hinaus. Wenig Dialoge, kein Sex, kein Schmutz, wenig Witz, dafür viel Schmerz. Denis Pfabes Protagonist betäubt in seinem perfekt gebauten Text «Die Möglichkeit einer Ordnung» (Deutschlandfunk-Preis) die Trauer über ein verlorenes Kind mit einer exzessiven Shoppingtour im Baumarkt. «Was jetzt noch blieb, war, den Anschein nach aussen zu wahren, auch wenn alle Welt wusste, dass wir längst gescheitert waren, dass unsere Räume, die wir bis ins kleinste Detail geplant und umgebaut hatten, nun doch leer bleiben würden», heisst es.

Olivia Wenzel fällt da angenehm aus dem Raster, in ihrem originellen und Text «Hochleistung, Baby» erzählt sie von einer jungen Mutter, die im Job kämpft – sie muss als Journalistin einen ehemaligen Fussballprofi auf einem Fischerboot interviewen, während sich in ihren Brüsten die Muttermilch zur Unerträglichkeit staut. Unverständlich, dass sie ohne Preis nach Hause fährt.

Erzählung vom Empörungsjournalismus

Überhaupt ist das Abstimmungsverfahren in Klagenfurt abenteuerlich bis dadaistisch, nicht mal der herbeizitierte Abstimmungsbeauftragte scheint so richtig durchzublicken. Die Jury vergibt nämlich ausser dem Hauptpreis dann noch drei andere Preise, das Publikum auch einen.

Und damit zum Gurkerl. Gleich zwei Preise (3Sat Preis und den Publikumspreis) bekam nämlich die Wiener Autorin Johanna Sebauer für ihre grandiose Satire «Das Gurkerl». Anhand eines vermeintlich banalen Spritzunfalls mit Essiggurkenwasser im Auge eines Journalisten erzählt sie von medialen und gesellschaftlichen Empörungsmechanismen. Erst schreibt der versehrte Journalist einen wütenden Kommentar gegen das gefährliche Gurkerl, bald kommt es zu wutbürgerartige Ausschreitungen auf den Gassen, wer ist dafür, wer ist dagegen, irgendwann blickt keiner mehr durch, warum man sich eigentlich so empört.

Sebauer weiss um die Mittel der Satire, setzt sie perfekt ein. Einer der wenigen Texte, der sich gesellschaftlichen Mechanismen widmet in einer so empörungsreichen Zeit. Also ein politischer Text. Und: ein lustiger, endlich.

Ist eine Geschichte über Milchstau so konventionell?

Die Jurydebatten, wie bei jeder guten Castingshow mindestens so wichtig ist wie der Performance der Künstler, liefen vernünftig, beinahe brav ab. Selbst der einst berüchtigte Philipp «Dieter Bohlen» Tingler blieb so anständig wie die meisten Texte. Aus Zuschauerinnensicht ist das fast ein bisschen schade, so lang sich die Juroren untereinander streiten, ist das ja schon sehr schön. Die aufgerissenen Augen der Autorinnen und Autoren aber lassen vermuten, dass das Ganze auch so immer noch furchteinflössend genug ist. Nur Olivia Wenzel traut sich, am Ende noch das Wort zu ergreifen und bittet darum, man möge präzisieren, was genau an ihrem Text über einen an Milchstaubrüsten saugenden Ex-Fussballprofi «konventionell» sei, wie einige fanden.

Immer wieder nimmt die Jury in diesen Tagen Bezug auf die Eröffnungsrede des österreichischen Schriftstellers Ferdinand Schmalz. Nach deren Logik läge es möglicherweise an einem selbst, nicht am Text, wenn man diesen langweilig findet oder nicht emotional von ihm berührt wird. So hört man häufig: «Das war nicht meins», oder «Nichts für mich, wird aber seine Leser haben», oder eben: «Das mochte ich sehr». Diese «It’s not the book, it’s me»-Haltung befindet sich am entgegengesetzten Ende eines Kritikbegriffs, der von sich selbst ganz und gar eingenommen ist. Das Gegenteil von: Wenn ich etwas nicht verstehe, muss ja das Buch schlecht sein.

Das ist ein sympathisch bescheidener Ansatz einer Kritik, die sich selbst nicht wichtiger nimmt als ihren Gegenstand. Geschmack bleibt nun mal subjektiv. Aber als Kritiker und als Juror in Klagenfurt darf man sich schon bemühen, eine einigermassen objektive Argumentation für ein Unwohlsein zu finden. Manchmal ist ein Text ja einfach wirklich nicht gut. Manchmal hat er einfach nur ein Sonntagsgwandl an. Oder, frei nach Tijan Sila: Man kann nicht alles reparieren.

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2024-06-30T15:10:00Z dg43tfdfdgfd