UND WAS, WENN MARINE LE PEN SEHR HOCH GEWINNT?

Frankreich wählt in einer fiebrigen Atmosphäre ein neues Parlament. Was sind die möglichen Szenarien? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Frankreich hat schon viele wichtige, sogenannt entscheidende Wahlen erlebt. Auch dramatische. Die vorgezogene Parlamentswahl vom 30. Juni und 7. Juli gehört bereits in die Kategorie «historisch», da sind sich die Franzosen grossmehrheitlich einig. Historisch in mehrfacher Hinsicht. Natürlich aber zunächst vor allem wegen der Aussicht, dass die extreme Rechte diese Wahlen gewinnen könnte – und wahrscheinlich auch gewinnen wird. Die Frage ist: wie hoch?

Warum wählt Frankreich jetzt, drei Jahre vor dem ordentlichen Termin?

Das wüssten die Franzosen auch gerne. Als ihr Präsident, Emmanuel Macron, am Abend des 9. Juni, um 20.58 Uhr, nach der verlorenen Europawahl im Fernsehen auftrat und sagte, er wolle die Geschichte nicht einfach hinnehmen, sondern aktiv daran schreiben, und darum löse er die Assemblée Nationale auf, hat er damit alle überrascht – wirklich alle, auch das rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen. Die Partei hatte nach ihrem hohen Sieg (31,4 Prozent der Stimmen) sofort Neuwahlen gefordert. Aber das hatte sie schon früher immer so gemacht, nach jeder gewonnenen Wahl – mit der Überzeugung, dass es ohnehin nicht passieren würde. Zudem: Europawahlen waren in Frankreich oft Protestwahlen gegen den Präsidenten des Moments, eine Art Midterm-Wahlen. Ihre innenpolitische Bedeutung? Eher gering. Es gab also keine Not, die Parlamentswahl vorzuziehen. Macron, so die gängige Deutung dieses noch immer rätselhaften Coups, wollte alle überrumpeln mit einer Blitzwahl und sich dann wieder als Bollwerk gegen die extreme Rechte profilieren.

Wie oft gab es das schon, dass ein französischer Präsident das Parlament aufgelöst hat?

Fünfmal vor Macron in der Fünften Republik, also seit 1958. Zweimal Charles de Gaulle (1962 und 1968), zweimal François Mitterrand (1981 und 1988), einmal Jacques Chirac (1997). Alle unter Berufung auf Artikel 12 der Verfassung, je mit sehr unterschiedlichen politischen Motiven. Doch kein Präsident vor Macron hat das Parlament im unmittelbaren Nachgang einer verlorenen Wahl aufgelöst.

Wie sehen die Umfragewerte vor dem ersten Wahlgang aus – geht Macrons Rechnung auf?

Die Lepenisten liegen weit vorne: bei etwa 35 Prozent. Dann kommt die vereinte Linke des «Nouveau Front Populaire» mit 29 Prozent. Macrons zentristisches Lager «Ensemble» wird auf etwa 20 Prozent geschätzt. Es wird deshalb erwartet, dass es in einer Mehrheit der 577 französischen Wahlkreise, die je einen Abgeordneten in die Assemblée Nationale entsenden, im zweiten Wahlgang zu Duellen zwischen der extremen Rechten und einem linken Kandidaten kommen wird. Da und dort wird es auch «Triangulaires» geben, also Dreierausmarchungen – dort nämlich, wo der Drittplatzierte mindestens 12,5 Prozent der Stimmen aller im betreffenden Wahlbezirk eingeschriebenen Wahlberechtigten erhalten hat. Bei einer hohen Wahlbeteiligung, wie sie erwartet wird, könnte das öfter vorkommen als bei früheren Wahlen. Wie man es auch dreht: Die Macronisten werden ihre relative Mehrheit im Parlament verlieren. Der Präsident hatte nicht für möglich gehalten, dass sich die zerrissene Linke in so kurzer Zeit zusammenraufen würde. Er dachte, s e i n e Leute würden dann in den allermeisten Stichwahlen den Lepenisten gegenüberstehen.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die extreme Rechte eine absolute Mehrheit erreicht, also mindestens 289 Sitze?

Das ist die zentrale Frage. Bei Wahlen nach dem Mehrheitssystem sind Prognosen kompliziert. Sie hängen wesentlich davon ab, wie sich die Parteien verhalten, die im ersten Wahlgang verloren haben oder nur Dritte wurden. Früher erhob sich jeweils eine «republikanische Front» gegen den Front National, wie die Partei einst hiess. Das bedeutete, dass die gemässigten Parteien ihre Drittplatzierten aus dem Rennen zogen, damit sich die Stimmen gegen die extreme Rechte nicht verzettelten. Oder dass sie offen für die Wahl von gemässigten Kandidaten aus dem jeweils anderen Lager aufriefen: Gaullisten für Sozialisten zum Beispiel, und umgekehrt. Das ist heute kein Automatismus mehr, die «republikanische Front» hat sich abgenutzt – vor allem rechts der Mitte.

Was also haben die Macronisten für den zweiten Wahlgang vor?

Offenbar ist die Versuchung gross, die Losung «Weder-noch» auszugeben: weder das Rassemblement National noch die sehr linke France Insoumise, eine der vier Partnerparteien im linken Bündnis «Nouveau Front Populaire». Das würde aber wohl der extremen Rechten helfen, die allein auf ein grösseres, solideres Wahlvolk zählen können.

Was passiert, wenn die Lepenisten tatsächlich eine absolute Mehrheit haben in der Assemblée Nationale?

Das wäre schon mal historisch: In der nun aufgelösten Nationalversammlung hatten sie 89 Sitze, so viele wie noch nie seit der Parteigründung 1972. Macron, der bei der Berufung des Regierungschefs theoretisch freie Hand hätte, wird dann wohl den jungen Präsidenten des Rassemblement National, Jordan Bardella, zum Premier machen müssen. So will es dessen Partei. Und zwar nur im Fall einer absoluten Mehrheit, wie Bardella ständig wiederholt: Also nur dann, wenn er aus einer Position der Stärke agieren könnte. Es wäre das vierte Mal in der Fünften Republik, dass Frankreichs Exekutive in einer «Cohabitation» regierte, also mit einem Präsidenten und einem Premier von unterschiedlicher Couleur. Nur: Diesmal wären diese politischen Farben so unterschiedlich wie nie zuvor, und das Konfliktpotenzial wäre enorm.

Was würde das für die französische Aussen- und Verteidigungspolitik bedeuten, wenn die extreme Rechte mitregierte?

In Frankreich heisst es, Aussenpolitik und Verteidigung seien «domaine présidentiel», exklusiver Kompetenzbereich des Präsidenten. Doch ganz so eindeutig ist die Verfassung nicht. Der Präsident ist zwar laut Artikel 15 «Chef des armées», also Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Doch gemäss Artikel 21, Paragraf 1, fällt die «Verantwortung der nationalen Verteidigung» in die Befugnis des Premierministers. Oder anders: Der Premier entscheidet über das Budget. Marine Le Pen sagt es so: «‹Chef des armées› ist ein Ehrentitel, den Geldbeutel hat der Premier in der Hand.» Eine Karikatur. Was also würde mit den Waffenlieferungen an die Ukraine passieren? Bardella sagte, Frankreich würde auch mit ihm als Premier an seinen Versprechen festhalten: Eine Entsendung von Truppen in die Ukraine würde er allerdings nicht zulassen. Das Rassemblement National war früher immer russophil und Putin-nahe. Es erhielt grosse Darlehen aus Moskau. Bei Abstimmungen über Sanktionen gegen Russland enthielt sich die Partei oft der Stimme oder stimmte dagegen. Nun gibt sie sich solidarisch mit der Ukraine.

Was würde eine rechtsextreme Regierung in Paris für die Europäische Union bedeuten?

Eine Zerreissprobe. Es ist erst ein paar Jahre her, da forderte Marine Le Pen noch den «Frexit» oder zumindest Frankreichs Austritt aus dem Euro. Neuerdings will man die EU von innen heraus verändern, Verträge neu verhandeln, Freihandelsabkommen möglichst noch stoppen, Regeln etwa für die Landwirtschaft abbauen. Natürlich wissen die Lepenisten, dass Grossänderungen in der EU nur einstimmig beschlossen werden können – alle 27 Staaten zusammen. Doch für die Propaganda sind die Parolen wichtig. Interessant wird sein, ob Frankreich im Fall einer «Cohabitation» bei europäischen Gipfeln künftig zu zweit am Tisch sitzen wird, ob Macron also Bardella jeweils mitnehmen würde. Genaue Regeln gibt es nicht, nur Usanzen. Der Gaullist Jacques Chirac nahm den Sozialisten Lionel Jospin jeweils mit, weil der das so wollte. Ihre «Cohabitation» dauerte fünf Jahre lang, von 1997 bis 2002.

Und was wäre, wenn kein Lager die absolute Mehrheit hätte – und es auch keine einigermassen starke relative Mehrheit gäbe?

Sollten es die Zahlen zulassen, könnte Macron versuchen, einen Pol moderater Kräfte links und rechts der Mitte zu bilden: einen «Macronismus 2.0». Allerdings ist es fraglich, ob sich etwa die Sozialdemokraten und die Grünen, so sie denn überhaupt genügend Sitze gewonnen hätten, auf ein solches Abenteuer einlassen würden. Denn Macron ist seit einiger Zeit weit nach rechts gerutscht. Vor den Wahlen griff er die Linke genauso vehement an wie die extreme Rechte. Vielleicht wäre in einer solchen Parlamentskonstellation eine parteilose Expertenregierung die plausiblere Option. Ein rundum technokratisches Kabinett wäre politisches Neuland für Frankreich, das hat es noch nie gegeben – nicht wie in Italien. Doch vielleicht wäre Macron diese Option überhaupt am liebsten. Seine Amtszeit dauert noch drei Jahre. Formal zwingt ihn nichts, seine Präsidentschaft vorher aufzulösen. Und Macron sagt auch unentwegt, er werde in jedem Fall bleiben bis zum Ende seines Mandats, bis Mai 2027.

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