SIE WURDE VON PUTIN ZUR FAHNDUNG AUSGESCHRIEBEN, UND NUN LEITET SIE DIE AUSSENPOLITIK DER EU: KAJA KALLAS’ WEG VOM RANDE EUROPAS INS ZENTRUM DER MACHT

Jede gute Geschichte braucht eine Heldin und jede Heldin einen Bösewicht. Kaja Kallas musste dafür nicht lange suchen. Die estnische Ministerpräsidentin regiert ein winziges Land am Rande Europas. Einst unfreiwillig Teil der Sowjetunion, bangt das unabhängige Estland heute erneut um seine Sicherheit. Der Grund: Ennet der Grenze, im Moskauer Kreml, sitzt mit Wladimir Putin der Bösewicht schlechthin.

Kallas hatte schon vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine vor Putin gewarnt – nur nahm sie damals kaum jemand ernst oder überhaupt wahr. Im Februar 2022 änderte sich das schlagartig. Aus der Regierungschefin eines unbedeutenden Kleinstaates wurde quasi über Nacht «Europas Frontfrau» («FAZ»), «die Politikerin, die Putin die Stirn bietet» («Tages-Anzeiger») – und laut dem Magazin «Politico» «eine der einflussreichsten Personen Europas». Der Kremlchef liess sie wegen «feindlicher Handlungen» zur Fahndung ausschreiben. Kallas gegen Putin: Das ist eine gute Geschichte.

Seit sie europaweit bekannt geworden ist, taucht Kallas’ Name in der Liste der mutmasslichen Kandidatinnen und Kandidaten auf, wann immer in Brüssel ein hochrangiger Posten vergeben wird. Vor einem Jahr wurde sie als Nachfolgerin des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg gehandelt. Dann gab es Gerüchte, dass sie den Posten von Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission übernehmen könnte. Nun ist sie als Chefin des Aussendienstes nominiert, die Bestätigung durch das Parlament gilt als gesichert.

In ihrem eigenen Land begegnen viele Kaja Kallas inzwischen allerdings mit Skepsis. Wer ist die Frau, die es vom Rande Europas ins Zentrum der Macht geschafft hat?

Der Aufstieg

Es ist das Jahr 1949. Estland ist Teil der Sowjetunion, und deren Führer Josef Stalin lässt 400 000 Menschen aus den baltischen Staaten in sibirische Arbeitslager deportieren. Auch Kaja Kallas’ Grosseltern und ihre Mutter – damals sechs Monate alt – werden in einen Viehwaggon verladen, der nach Osten fährt. Die Heimat werden sie erst zehn Jahre später wiedersehen. Viele der Deportierten kommen nie mehr zurück.

Kaja Kallas wird 1977 im sowjetischen Tallinn geboren. Die ersten 14 Jahre lebt sie unter einem kommunistischen Regime. 1991 erklärt sich Estland für unabhängig. Ihr Vater, Siim Kallas, ist einer von jenen, die die neue Ära entscheidend mitprägen. Er präsidiert die estnische Nationalbank und gründet 1994 die liberale Reformpartei, die seine Tochter heute führt. Später ist er Aussen- und Finanzminister und verhandelt 2004 als Ministerpräsident Estlands Beitritt zur EU.

Kaja Kallas folgt ihrem Vater 2010 in die Politik. Im Januar 2021 wird sie die erste Frau an der Spitze der Regierung Estlands. Nach einer Legislatur, die von dem Krieg in der Ukraine und Querelen innerhalb der Koalition geprägt ist, erhält ihre Partei bei den Parlamentswahlen im Frühling 2023 31 Prozent der Stimmen. Die grosse Siegerin der Wahl heisst Kaja Kallas. Sie erhält die meisten Präferenzstimmen aller Zeiten und ist amtlich beglaubigt die populärste Politikerin Estlands.

Der Skandal

Doch der Höhenflug währt nur kurz. Im August 2023 wird bekannt, dass Kallas’ Mann an einem Speditionsunternehmen beteiligt ist, das Waren nach Russland liefert – und dies nach dem Kriegsbeginn. Ausgerechnet Kallas, die sich stets als Unterstützerin der Ukraine positioniert und nach härteren Sanktionen gegen Russland gerufen hat, soll an den Geschäften beteiligt gewesen sein. Sie hatte der Firma ihres Gatten ein Darlehen von 350 000 Euro gewährt.

Der Skandal gärt während mehrerer Wochen. Nicht nur die Opposition, sondern auch Estlands Präsident Alar Karis und Kallas’ Koalitionspartner halten die Geschäftspraktiken für mehr als eine Lappalie. Der Wahlsieg der Reformpartei fusst auf ihrer kritischen Haltung gegenüber Russland. Die Kritiker fragen sich: War alles nur Show?

Kallas sitzt die Krise aus. Doch während ausländische Medien sie zur neuen Spitzenpolitikerin hochjubeln, wird die Kritik in der Heimat immer lauter. Die Inflation ist hoch. Die steigenden Verteidigungsausgaben und die Hilfe für die Ukraine belasten die Staatskasse zusätzlich. Für Unruhe sorgen auch die Rücktritte des höchsten Beamten im Verteidigungsministerium und des Armeechefs. Die Regierung investiere zu wenig in die Verteidigung, lautet ihre Begründung.

Kallas, die im Ausland für ihre kompromisslose Haltung bekannt ist, wird in Estland dafür kritisiert, dass ihrer Regierung ein klarer Kurs fehlt. In einer im März durchgeführten Umfrage fordern 66 Prozent der Befragten ihren Rücktritt. Bei den Europawahlen verliert die Reformpartei einen Sitz und fällt bei den Wähleranteilen auf die dritte Stelle zurück, hinter die mitregierenden Sozialdemokraten und die konservative Oppositionspartei Isamaa.

Die Chance

Nach den Europawahlen betonte die Regierungschefin, dass das Ergebnis keinen Einfluss auf die Regierungsarbeit habe. Parlamentswahlen stehen in Estland erst 2027 an. Aus den eigenen Reihen heisst es, ihre Ernennung zur Chefdiplomatin der EU sei eine Chance. Dann werde die Partei sie frühzeitig los – als Vorsitzende und als Regierungschefin.

Für Osteuropa jedenfalls, insbesondere für Estland, ist die Ernennung eine gute Sache. Bei der Verteilung der Spitzenposten in der EU geht es auch um regionale Ausgeglichenheit. Die baltischen Staaten kamen bisher weder in der Nato noch in der EU zum Zug, was oft kritisiert wurde. Für Kallas’ politische Karriere ist der Posten in Brüssel ein Neuanfang. Weit weg vom politischen Klein-Klein ihres Heimatlandes, dürfte es ihr einfacher fallen, einen klaren Kurs zu finden. Den Bösewicht in ihrer neuen Rolle hat sie zumindest schon.

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