FüR DIESEN SVP-MANN WIRD DAS HOCHWASSER ZUM ALBTRAUM

Staatsrat Franz Ruppen hat ein Hochwasserschutzprojekt im Wallis sistiert. Dann kam das Unwetter. Nun fordert die Industrie Massnahmen. Und Ruppen ist unter Druck.

Die Fragen, die der Walliser SVP-Regierungspräsident Franz Ruppen in diesen Tagen beantworten muss, sind ein Albtraum für jeden Politiker. «Hat Ihr Kanton noch die Mittel, um für die Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner zu sorgen?», fragt der Moderator im Westschweizer Fernsehen RTS. Nach dem Hochwasser am vergangenen Wochenende ist eine Person im Wallis gestorben, eine weitere wird nach wie vor vermisst. Ruppens Irritation dauert nur kurz. Er atmet einmal tief ein und sagt: «Also, es ist nötig, diese Mittel zu finden.» 

Seit die heftigen Unwetter das Wallis so stark getroffen haben, ist Franz Ruppen unter Druck. Der SVP-Politiker, der Umweltdirektor werden wollte, um im Amt aufzuräumen, muss sich rechtfertigen. Vor wenigen Wochen hat er im Wallis das grösste Hochwasserschutzprojekt der Schweiz vorübergehend gestoppt. «Sind Sie auf dem Holzweg?», fragt nun der «Walliser Bote» den Staatsrat. Umweltverbände und politische Gegner fühlen sich bestätigt und üben harsche Kritik. 

Dabei schien es eben noch, als ob Ruppen (53) spielend durchmarschiert. 2021 wurde der SVP-Nationalrat mit einem Glanzresultat in die Kantonsregierung gewählt, und er erhielt auf Anhieb sein Wunschdepartement, das Departement für Mobilität, Raumentwicklung und Umwelt. Noch bevor er 100 Tage im Amt war, schaffte Ruppen die «Dienststelle für Hochwasserschutz Rhone» zugunsten einer neuen Dienststelle für Naturgefahren ab.

Und vor wenigen Wochen gab Ruppen eben bekannt, dass der Staatsrat die 3. Rhonekorrektion nochmals gründlich überprüfen wolle. Das Hochwasserschutzprojekt, bei dem der Fluss Rhone mehr Platz erhalten soll, um Überschwemmungen zu verhindern, ist unter anderem bei Bauern umstritten. Diese befürchten, dass sie Ackerland verlieren könnten. Ruppen gehörte schon vor Jahren zu den Gegnern des Projekts. Nun sagte er Ende Mai als zuständiger Umweltdirektor: Das Projekt sei «überdimensioniert» und gehe von einem viel zu grossen Schadenspotenzial aus. 

Dokument zeigt alte Pläne

Eine umstrittene Einschätzung. Welche Schäden Hochwasser anrichten können, zeigt sich in diesen Tagen nicht nur bei Verkehrsinfrastrukturen und im Tourismus, sondern auch in der Industrie. Stark in Mitleidenschaft gezogen wurden zwei Grossunternehmen in Siders und Chippis, die auf Aluminiumprodukte spezialisiert sind und die zusammen über 1000 Mitarbeitende beschäftigen: der in Frankreich ansässige Konzern Constellium und die Firma Novelis, die Teil des indischen Industriekonglomerats Aditya Birla ist.

Die Feuerwehr und die Armee sind daran, auf dem grossen Gelände den Schlamm wegzuräumen, alle Maschinen müssen auf Defekte untersucht werden. Wie lange die Fabriken stillstehen, ist ebenso unklar wie das Schadensausmass und seine finanziellen Folgen.

Einen möglichen Hinweis liefert ein Dokument der Walliser Behörden, das aus dem Jahr 2008 datiert und «prioritäre Massnahmen» der 3. Rhonekorrektion auflistet. Im nun betroffenen Industriestandort wurden die potenziellen Schäden, die ein Hochwasser des Flusses anrichten könnte, auf 850 Millionen bis 1 Milliarde Franken geschätzt.

Die Hochwasser vom Oktober 2000, heisst es im Dokument, hätten aufgezeigt, dass die Abflusskapazität der Rhone zu klein sei, um die  Sicherheit für die Gebäude entlang dieses Abschnitts sicherzustellen. Zur Diskussion standen deshalb mehrere Sicherungsmassnahmen, etwa eine Verbreiterung des Flusses. Kostenpunkt: etwa 70 Millionen Franken.  

Doch der Schutz ist bis heute nicht vorhanden. Warum? Die Walliser Kantonsbehörden bestätigen, dass seit 2008 keine Arbeiten mehr durchgeführt worden sind – weshalb, lassen sie offen. Als Ruppen 2021 in die Regierung eintrat, habe er 14 Jahre Verspätung aufholen müssen. 2022 habe sich der Bedarf zusätzlicher Studien herausgestellt, die unter anderem das Verhalten des Grundwassers betrafen. Vergangenes Jahr sei dann ein Projekt ausgearbeitet worden, das sich derzeit in der Endphase befinde und das Gebiet sichern könne. «Die jüngsten Überschwemmungen haben gezeigt, dass nun gehandelt werden muss», schreiben die Behörden.

Lonza verschont – nur Zufall?

Ein anderes Bild präsentiert sich in Visp, am Standort von Lonza. Der grösste Walliser Industriebetrieb, der etwa 5000 Angestellte zählt, kann seine Produktion wie gewohnt weiterführen. Es sei weder zu Überflutungen noch zu sicherheitsrelevanten Vorfällen gekommen, sagt ein Sprecher.

Lonza verfügt eigenen Angaben zufolge über Überwachungs- und Alarmsysteme, die helfen, mögliche Gefahrensituationen an der Rhone frühzeitig zu erkennen und darauf reagieren zu können. Lonza vermutet zudem, dass bereits umgesetzte Hochwasserschutzmassnahmen «massgeblich dazu beigetragen haben, den Industriepark und Visp vor Schäden zu bewahren».

Tatsache ist: Der Kanton Wallis hat hier frühzeitig Vorkehrungen getroffen, etwa Dämme verstärkt und Gewässer verbreitert. Vor fünf Jahren verkündete er, das betreffende Gebiet sei nun vor Jahrhunderthochwassern geschützt. Damit habe man ein Schadenspotenzial von rund drei Milliarden Franken eliminiert.

Investitionen von Sicherheit abhängig

Constellium und Novelis haben beim Kanton Wallis inzwischen präventiv einen Antrag auf Kurzarbeitsentschädigung gestellt. Es sind laut Volkswirtschaftsdirektor Christophe Darbellay (Mitte) bislang die einzigen Unternehmen im Wallis. Swissmem, der Verband für KMU und Grossfirmen der Schweizer Tech-Industrie, erwartet, dass Kurzarbeitsgesuche «unbürokratisch und rasch bewilligt werden». «Die Lage im Wallis ist dramatisch», sagt Geschäftsleitungsmitglied Noé Blancpain. Die betroffenen Firmen seien enorm gefordert. 

Druck auf den Kanton Wallis macht nun auch die Industrie. «Wir sind uns bewusst, dass das Hochwasser vom vergangenen Wochenende und seine Auswirkungen ein aussergewöhnliches Ereignis darstellen», sagt Novelis-Sprecherin Susann Aamara. Dennoch sei ein wirksamer Hochwasserschutz und damit die Sicherheit der gesamten Industrieregion und der Wohngemeinden essenziell für die Zukunft der Region Siders.

Es gebe zwar keine Pläne, den Standort zu verlassen, so Aamara. Nichtsdestotrotz würden grössere Investitionen von Novelis in Zukunft «stärker davon abhängig», wie sicher der Standort sei. «Wir sprechen uns deshalb für die Beschleunigung der laufenden Hochwasserschutzmassnahmen aus.» 

Auch er wolle, dass es mit der Rhonekorrektion möglichst rasch vorwärtsgehe, beteuerte Umweltdirektor Ruppen in den letzten Tagen in mehreren Interviews. Aus seiner Sicht seien aber gewisse Korrekturen nötig. Ruppen denkt offenbar nicht daran, von seinem Kurs abzuweichen. Auf eine Anfrage dieser Redaktion hat er bisher nicht reagiert. 

«Seltsame Entscheidung»

Ruppen scheut politischen Gegenwind nicht. So engagierte sich der Umweltdirektor vergangenes Jahr als einziger Walliser Staatsrat gegen das Klimaschutzgesetz. Und mit dem Marschhalt bei der Rhonekorrektion traute der Politiker der Schweizerischen Volkspartei es sich zu, es mit einem Volksentscheid aufzunehmen. Die Walliser Stimmbevölkerung hatte das Hochwasserschutzprojekt 2015 deutlich angenommen. Dieser Widerspruch rief vor drei Wochen sogar Alt-Bundesrat Pascal Couchepin (FDP) auf den Plan. «Eine seltsame Entscheidung» sei dieser Marschhalt bei der Rhonekorrektion, schrieb er in der Zeitung «Le Nouvelliste». 

Neutraler äusserte sich gestern Ruppens Parteifreund, SVP-Bundesrat und Umweltminister Albert Rösti. Der Kanton Wallis wolle nun noch einmal überprüfen, ob für den Hochwasserschutz entlang der Rhone wirklich rund 150 Hektaren Fruchtfolgeflächen verloren gehen müssten, sagte Rösti gegenüber Radio SRF. Das liege in der Hand des Kantons.

Es sei aber unbestritten, dass bei diesem Interessenkonflikt keine Abstriche bei der Sicherheit gemacht werden dürften. Da werde auch der Bund ein Auge drauf haben. Dieser beteiligt sich mit über einer Milliarde am Projekt. Gegenüber der «NZZ am Sonntag» hatte Röstis Bundesamt für Umwelt bestätigt, dass der Bund erste Zahlungen an die Walliser ausgesetzt hat.

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