EIN ZüRCHER LEHRER SOLL DIE SEXUELLE INTEGRITäT EINES VIERTKLäSSLERS VERLETZT HABEN – ER SITZT NUN IN U-HAFT. DIE SCHULPRäSIDENTIN: «ES IST EIN VERHALTEN, WIE ES NICHT VORKOMMEN DARF»

Vor drei Wochen noch galt der 27-Jährige als ganz normaler Primarlehrer. Beliebt, engagiert, seit vier Jahren an einer Stadtzürcher Schule im Schulkreis Glatttal angestellt. Leumund gut, keine Auffälligkeiten im Strafregisterauszug. Eine vierte Klasse unterrichtete er. Laut «Blick» soll er sich in den sozialen Netzwerken als «Mann mit einem grossen Herzen» bezeichnet haben.

Nun sitzt er im Gefängnis - in Untersuchungshaft. Das Zwangsmassnahmengericht hat einen Antrag der Zürcher Staatsanwaltschaft gutgeheissen. Der Verdacht: «Delikte gegen die sexuelle Integrität».

Der Fall bewegt Eltern und Lehrpersonen im Schulkreis und darüber hinaus. Seinen Anfang nahm er vor zwei Wochen, am Dienstag, dem 11. Juni. Da beobachtet eine Kollegin des Lehrers das, was die Stadt später «grenzüberschreitendes Verhalten» nennen wird. «Zu viel Nähe» gegenüber einem Viertklässler habe es gegeben, sagt die zuständige Schulpräsidentin Vera Lang.

Am späten Dienstagabend habe sie von der Schulleiterin erfahren, dass es zu einer beunruhigenden Beobachtung gekommen sei, sagt Lang im Gespräch mit der NZZ. Am nächsten Tag habe sie die Lehrerin zum Sachverhalt befragt. «Es ist ein happiger und delikater Vorwurf. Den mussten wir sofort sorgfältig abklären.»

Was genau die Lehrerin beobachtet hat, will Lang mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht erläutern. Sie sagt jedoch: «Es ist ein Verhalten, wie es nicht vorkommen darf.»

Lehrer ist teilweise geständig

Klar ist, dass die Vorwürfe so ernst sind, dass die Schulpräsidentin sich noch am selben Tag bei der Stadtpolizei meldet und einen internen Krisenstab einsetzt. Am nächsten Morgen erhebt die Kreisschulbehörde Anzeige gegen ihren eigenen Lehrer, stellt ihn zur Rede und beschliesst am Donnerstagnachmittag – also rund zwei Tage nach Eingang der ersten Meldung –, ihn zu beurlauben.

Dann geht es Schlag auf Schlag: Am darauffolgenden Montag, dem 17. Juni, werden die Eltern an einem Elternabend informiert. Die Reaktionen sind dem Vernehmen nach gemischt – von Schock bis Ungläubigkeit. Es ist wie so oft in dieser Art von Fällen: Es betrifft einen Lehrer, dem die wenigsten eine Grenzüberschreitung zugetraut hätten.

Drei Tage später einigt sich die Schule mit dem Lehrer darauf, das Arbeitsverhältnis auf Ende des auslaufenden Schuljahres zu beenden. Bis dahin bleibt er beurlaubt.

In einem Elternbrief schreibt die Schule: «Der Schutz der Kinder steht bei uns an oberster Stelle. Diesbezüglich gilt Nulltoleranz.» Der Lehrer werde nicht in die Klasse zurückkehren. Der Entscheid sei allerdings «keine Schuldanerkennung».

Schliesslich, am Dienstag der laufenden Woche, verhaftet die Stadtpolizei den Lehrer. Einen Tag darauf folgt der Antrag auf Untersuchungshaft. Erich Wenzinger, Mediensprecher der Oberstaatsanwaltschaft, schreibt der NZZ, die Untersuchung befinde sich noch in einer frühen Phase. Es werde auch die Frage untersucht, ob noch weitere Opfer betroffen seien.

Beim Beschuldigten seien zudem «verschiedene Datenträger» gesichert worden, die nun ausgewertet würden. Der Lehrer ist teilweise geständig. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Während die Strafuntersuchung läuft, finden sich die vierte Klasse des Lehrers und seine Schule in einer Extremsituation wieder. Die Schulpräsidentin Lang sagt: «Ich bin seit bald 20 Jahren Schulpräsidentin, aber so eine Situation hatte ich noch nie.»

Dennoch glaubt die Schulpräsidentin, dass ihre Behörde rasch und richtig reagiert habe. Die zwei Tage, die zwischen erster Meldung und Beurlaubung verstrichen, seien nötig gewesen, um den Sachverhalt abzuklären und ihren Sorgfaltspflichten als Arbeitgeberin nachzukommen.

Nun will sich Lang darauf fokussieren, den betroffenen Schülerinnen und Schülern wieder so viel Normalität wie möglich zu bieten. Unterdessen unterrichtet eine Vikarin die Klasse. Nach den Sommerferien soll dann eine Aufarbeitung des Vorfalls durch eine externe Fachstelle erfolgen.

Auch psychologische Betreuung gebe es, bestätigt Matthias Obrist, der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich. Betroffene Eltern und Kinder, die ein vertrauliches Gespräch wünschten, könnten sich jederzeit an seine Fachstelle wenden.

Psychologin empfiehlt Zurückhaltung

Die Frage, die bei Eltern und Lehrpersonen bleibt, ist: Wie soll man sich in einem solchen Fall gegenüber den Kindern verhalten, wie ihren Fragen begegnen?

Marijana Minger, Schulpsychologin und Präsidentin des kantonalen Schulpsychologen-Verbands, sagt dazu: «Ignorieren und Herunterspielen ist sicher nicht das Richtige.»

Es gelte in solchen Notfallsituationen, dreierlei zu tun. Erstens: das Kind ernst nehmen. «Man sollte vermitteln: Es ist normal, dass aussergewöhnliche Ereignisse starke Gefühle auslösen.» Diese Botschaft sei zentral, damit ein Kind die Schuld dafür nicht bei sich selbst suche.

Zweitens müsse man den raschestmöglichen Weg in die Normalität suchen. «In einer Krise braucht es erst einmal Stabilität, nicht grosse Abhandlungen über grenzüberschreitendes Verhalten», sagt Minger. Die Botschaft «Mein Körper gehört mir» sei von immenser Bedeutung, man müsse sie jedoch in normalen Zeiten, im Rahmen der Präventionsarbeit verankern. In Krisensituationen gelte dagegen: Das tun, was den Kindern einen Sinn von Alltäglichkeit und Kontrolle gibt – Sport, Lernen, das Hobby.

Dabei ist es laut Minger drittens zentral, das richtige Mass an Aufmerksamkeit zu bieten. «Gesprächsangebote, gerade bei psychologischen Fachpersonen, sind wichtig. Man soll die Kinder aber nicht dazu drängen.» So individuell wie die Schüler sei schliesslich auch ihre Reaktion auf ein aussergewöhnliches Ereignis. Manche seien tief betroffen, bei anderen sei es schnell vergessen.

Entsprechend gezielt müsse die Hilfe sein. Minger sagt: «Man sollte gerade bei nicht direkt betroffenen Kindern nicht zu viel Staub aufwirbeln.»

Dazu gehört auch eine geradlinige Informationspolitik: Schulen wie Eltern seien gut beraten, den Kindern nur gesicherte Fakten mitzuteilen – und auch klar zu benennen, was noch unbekannt sei. Sich widersprechende Gerüchte und Spekulationen verlängerten dagegen den Weg zurück zur Normalität.

Ist diese nach vier bis sechs Wochen noch nicht da, empfiehlt die Expertin eine vertieftere Betreuung. «Besser man holt sich früh genug psychologische Hilfe als zu spät.»

Eine unvollständige «schwarze Liste»

Der Fall des Zürcher Lehrers beschäftigt auch das kantonale Volksschulamt. Dieses betont auf Anfrage, in der Zürcher Lehrerschaft gebe es insgesamt «eine grosse Sensibilität bezüglich Achtung der psychischen und physischen Integrität von Schülerinnen und Schülern». Man gehe davon aus, dass «grenzüberschreitendes Verhalten» durch Lehrpersonen «insgesamt selten vorkommt».

Wie viele solche Fälle es im Kanton genau gibt, erhebt das Amt allerdings nicht.

Zwar wird allgemein erfasst, in wie vielen Konflikt- und Krisenfällen der Kanton um Rat gefragt wird – rund hundert pro Jahr. Doch Zahlen zu möglichen sexuellen Übergriffen und den damit verbundenen Freistellungen gibt es nicht.

Der Grund: Auf einer «schwarzen Liste» landen Lehrpersonen erst, wenn ihnen ihr Lehrdiplom entzogen wird. Definitiv geschieht das, wenn sie wegen eines entsprechenden Delikts rechtskräftig verurteilt sind. Besteht nur ein Verdacht, ist der Entzug Ermessenssache.

Die «Liste der Lehrpersonen ohne Unterrichtsberechtigung» wird von der Konferenz der Erziehungsdirektoren geführt. Sie liegt der NZZ in anonymisierter Form vor. Insgesamt 111 Lehrpersonen sind darauf aufgeführt, 23 von ihnen aus dem Kanton Zürich. Die Einträge reichen zum Teil bis in die 1980er Jahre zurück. Sieben kamen im laufenden Schuljahr neu dazu, davon einer aus Zürich.

Gemessen am Total der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen ist das verschwindend wenig: Schweizweit fast 130 000 waren es im vergangenen Schuljahr, 20 000 allein im Kanton Zürich.

Dabei sollten auf der Liste alle Lehrpersonen stehen, die aus triftigen Gründen nicht mehr unterrichten dürfen. Neben strafrechtlich relevantem Verhalten wie etwa Sexualdelikten können das auch Suchtprobleme oder eine psychische Erkrankung sein.

Von den Zürcher Fällen betrifft laut dem Volksschulamt etwa die Hälfte Verstösse gegen die sexuelle Integrität von Kindern. Darunter fällt auch der Besitz von Kinderpornografie.

Bewirbt sich eine Lehrperson an einer Schule, können die Behörden überprüfen, ob sie auf der schwarzen Liste steht. Die Idee: Wer nicht vor eine Klasse gehört, soll nicht einfach den Kanton wechseln können.

An der Vollständigkeit der Liste gibt es allerdings erhebliche Zweifel. Vergangenes Jahr machten die Tamedia-Zeitungen publik, dass sieben öffentlich bekannte Fälle von Sexualtätern aus den Kantonen Tessin, Waadt und Aargau ihren Weg nicht auf die Liste fanden – trotz entsprechender Vorgabe der Erziehungsdirektoren.

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