EIN LEBEN IN DER LUFT: GEORG GERSTER REISTE IN HUNDERT LäNDER UND SCHOSS üBER EINE MILLION BILDER

Hunderte von farbigen Punkten, links in verschiedenen Grüntönen, dann orange und rot weiter rechts. Farbbänder, die aussehen, als wären sie gemalt worden. Man schaut das Bild gerne an, vielleicht gerade, weil nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, was es zeigt.

In Wirklichkeit sind es unzählige Lastwagenladungen von Tomaten und Kürbissen. Aufgrund ihrer unpassenden Grösse, Form oder Farbe wurden die Gemüse vom Markt zurückgewiesen und verrotten nun auf einer Mülldeponie. Aufgenommen wurden die Lebensmittelabfälle aus der Luft im Jahr 1982 im amerikanischen Gliedstaat Florida.

Fotografiert hat die Szene der Schweizer Fotograf Georg Gerster. Mit seinen Aufnahmen wurde Gerster in den 1960ern weltberühmt und zu einem Pionier der Luftbildfotografie. Er reiste in über hundert Länder und überflog alle Kontinente, um einzigartige Landschaften, Kulturen und archäologische Stätten von oben zu dokumentieren.

Unter dem Motto «Höhe schafft Überblick, Überblick ermöglicht Einsicht, und Einsicht schafft – vielleicht – Rücksicht» zeigte Gerster die Schönheit der Erde aus einer bis dahin unbekannten Perspektive. Und traf damit den Zeitgeist.

Seine Tochter, Anya von Schweinitz-Calonder, sagt: «Die Fotografien sind ein Zeitdokument unserer Erde. Sie machen darauf aufmerksam, wie stark sie sich verändert hat.» Einige der natürlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten auf den Fotos ihres 2019 verstorbenen Vaters existierten mittlerweile nicht mehr. «Vielleicht wird uns dadurch bewusst, dass wir keinen Plan B für die Erde haben.»

Künstlerischer Ausdruck mit wissenschaftlicher Genauigkeit

Georg Gerster, geboren 1928 in Winterthur, war ursprünglich nicht Fotograf, sondern Journalist. Als promovierter Germanist arbeitete er schon früh als Redaktor für die «Weltwoche». Zuerst im Feuilleton, dann im Wissenschaftsressort, das er als junger Redaktor mit aufbaute. Später schrieb er regelmässig für die NZZ.

Immer wieder fehlten ihm jedoch geeignete Bilder für seine Wissenschaftsreportagen. Er begann, selbst zu fotografieren. Seinen ersten Fotoflug unternahm er 1963 in einer gemieteten Cessna über dem Sudan. Dort entdeckte er seine Leidenschaft für die Luftbildfotografie. Was als Notlösung begann, entwickelte sich zu einer lebenslangen Obsession.

Gerster plante seine Flüge akribisch, bereitete jedes Detail vor, recherchierte die rechtliche Situation in jedem Land. In der Luft war er ein Perfektionist: Stundenlang liess er Piloten über demselben Punkt kreisen, während er sich aus der offenen Flugzeugtür lehnte, auf der Suche nach dem einen perfekten Schuss. So erzählt es seine Tochter Anya von Schweinitz-Calonder.

Die Flüge dokumentierte Gerster in einem Notizheft. Später nutzte er die Informationen, um äusserst präzise Bildunterschriften zu schreiben.

Auf diese Weise beschreibt Gerster unter den 1981 aufgenommenen Fotos der «Ananasinsel» Lanai auf Hawaii ausführlich die landwirtschaftlichen Methoden der Ananasindustrie. Dazu erklärt er die Verwendung von Ethylen zur Wachstumsregulierung und den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden mithilfe spezieller Feldspritzen. Sogar die Geometrie der Felder, die an die eingesetzten Maschinen angepasst wurde, erwähnt er.

Anya von Schweinitz-Calonder sagt: «In seinen Bildlegenden kam der Wissenschaftsjournalist in ihm zum Vorschein.» In Gersters Werken verschmelzen Kunst und Dokumentation zu einer einzigartigen visuellen Sprache.

Seine Bilder wurden weltweit in renommierten Publikationen wie «Geo» und «National Geographic» abgedruckt. Während 25 Jahren fotografierte Gerster auch für den berühmten Swissair-Kalender, der in jener Zeit unzählige Wände von Schulen und Kinderzimmern schmückte.

Stets auf der Suche nach mehr

Bis zu acht Monate im Jahr sei ihr Vater auf Reisen gewesen, erzählt von Schweinitz-Calonder. Manchmal begleitete sie ihn. Aber: «Ein familienfreundlicher Job war es nicht.» Bei Sonnenaufgang musste man schon in der Luft sein.

Auch in den Ferien konnte Gerster nicht auf Luftaufnahmen verzichten. Als die Familie einmal einige Tage im Engadin verbrachte, charterte er kurzerhand ein Flugzeug, um den dortigen Skimarathon aus der Vogelperspektive festzuhalten. Seine Ehefrau Anita Calonder Gerster erinnert sich: «Er war jemand mit einem grossen Freiheitsdrang. Ein Suchender und Jäger.»

Gersters Interesse an verschiedenen Ländern und Kulturen prägte seine Arbeit. Besonders faszinierten ihn Länder wie Iran, der Sudan, Äthiopien und Ägypten. Bei seinen Reisen nach Afrika brachte er Glasperlen und Kugelschreiber als Geschenke dorthin mit, was ihm den Spitznamen «Abu Kodak» (Grossvater Kodak) einbrachte.

Doch sobald er in sein Atelier zurückkehrte, lebte er fast wie ein Mönch. Zurückgezogen folgte er einem strikten Tagesablauf. Er, der weitgereiste Fotograf, hatte auch eine andere, ruhigere Seite. «Georg stand nur ungern im Mittelpunkt», erzählt Anita Calonder Gerster.

Nach getaner Arbeit sass er jeweils zwei Stunden im Wohnzimmer und las. Calonder Gerster sagt: «Die NZZ war seine tägliche Pflichtlektüre – kein Tag verging ohne sie.»

Am 8. Februar 2019 starb Georg Gerster im Alter von 90 Jahren. Seither leitet Anya von Schweinitz-Calonder als Direktorin das Archiv des Estate Georg Gerster.

Ein Leben für die Kunst

Georg Gersters Atelier in einer Zürcher Agglomerationsgemeinde ist hell, die Betonwände halten den Raum angenehm kühl. Die Regale an den Wänden sind bis oben hin gefüllt mit flachen, orangefarbenen Schachteln. Darin befinden sich Fotoabzüge in Schwarz-Weiss zu verschiedenen Themen, wie zum Beispiel der Apollo-Mission der Nasa. Die meisten von ihnen sind der Öffentlichkeit noch unbekannt.

Im Nebenraum liegen Akten und Kisten, darin sind Mappen voller Zeitungsschnipsel, Blattkopien, Notizzettel. In einer Schachtel liegen zwanzig kleine Dias, die tanzende Menschen auf einer Brücke zeigen. «Die Street Parade», sagt Schweinitz-Calonder. Sie hat das Archiv in den letzten Jahren reorganisiert und umstrukturiert.

Das Archiv, schätzt die Tochter, umfasse etwa eine Million Fotos. Was mit Gersters Lebenswerk geschehen soll, sei bereits besprochen worden. Genaue Details verrät die Familie aber noch nicht. Sicher ist, dass es in der Schweiz bleiben werde.

«Ihm war es wichtig, dass die Menschen seine Fotos sehen können. In Ausstellungen, Magazinen oder als Art-Prints», sagt von Schweinitz-Calonder. Das spiegelt Gersters lebenslange Mission wider: den Menschen die Schönheit ihrer Erde aus einer neuen Perspektive zu zeigen.

Gersters Frau sagt: «Er hat sein ganzes Leben in diese Bilder, in sein Werk gesteckt – so sehr, dass er am Ende einmal sagte: ‹Ich habe zu viel gemacht in meinem Leben.›» Die Schönheit der Erde habe ihn bis zum Schluss überwältigt.

Einige von Gersters bekanntesten Luftaufnahmen sowie bisher nicht ausgestellte Bilder der Nasa-Mondlandemission aus dem Jahr 1969 sind bis am Samstag in der Pop-up-«Galerie 1» im ehemaligen CS-Gebäude am Paradeplatz 8 in Zürich zu sehen.

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