DOCH SCHULDIG? LAUSANNER POLIZISTEN MüSSEN ERNEUT VOR GERICHT ERSCHEINEN

Die sechs Polizisten, die am Tod des 39-jährigen Nigerianers beteiligt waren, werden ab Montag vor dem Kantonsgericht erscheinen. Ihr Freispruch wird angefochten.

Die sechs Polizisten, die am Tod des 39-jährigen Nigerianers beteiligt waren, werden ab Montag vor dem Kantonsgericht erscheinen. Ihr Freispruch wird angefochten.

«Normalerweise ist die Stimmung in der Berufung weniger angespannt als in der ersten Instanz. Doch dieses Mal ist es anders.» Rechtsanwältin Odile Pelet verteidigt einen der sechs Polizisten, die vor einem Jahr von der Anklage der fahrlässigen Tötung von Mike Ben Peter freigesprochen wurden. Da das Berufungsverfahren am Montag beginnt, dürften die Angeklagten angespannt sein, wenn die Öffentlichkeit ihren Blick erneut auf ihre Taten vom 28. Februar 2018 richtet. Der Prozess findet über die Landesgrenzen hinaus Beachtung, denn es geht um einen Polizeieinsatz mit tödlichem Ausgang für eine schwarze Person. 

Das Urteil des Lausanner Strafgerichts vom 22. Juni 2023 hatte weder eine Verletzung der Vorsichtsregeln noch einen kausalen Zusammenhang zwischen der Anhaltung durch die Polizei und dem Tod des Nigerianers festgestellt. Diese Schlussfolgerung wurde von den Klägern, der Ehefrau – auch im Namen ihrer drei Kinder – und dem Bruder des Opfers angefochten.

Die Richter werden sich zwei Fragen stellen müssen: Haben die Polizisten einen Fehler begangen? Und falls ja, war der Fehler die Ursache für den Tod von Mike Ben Peter? 

In der ersten Instanz hatte das Gericht unter dem Vorsitz von Pierre Bruttin zweimal mit Nein geantwortet. Es hatte keine Verletzung der Sorgfaltspflicht festgestellt. Auszug aus dem Urteil: «Angesichts der extremen Besonderheit dieses tragischen Zwischenfalls konnte von den Angeklagten auf der Grundlage ihrer Erfahrung und ihres jeweiligen Wissens nicht verlangt werden, dass sie anders gehandelt hätten.» 

Wäre er auch ohne Polizeieinsatz an diesem Tag gestorben?

Das Gericht war auch zum Schluss gekommen, dass die polizeilichen Massnahmen nicht die Ursache für den Tod waren. Es bezog sich auf die Meinung der vom Gericht konsultierten Experten, die einen Tod mit «multifaktoriellen Ursachen» beschrieben: «Es kann nicht wissenschaftlich bewiesen werden, dass die Art und Weise, wie Mike Ben Peter überwältigt wurde, den tödlichen Verlauf beeinflusst hat. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass er am 28. Februar 2018 möglicherweise auch einen Herzstillstand erlitten hätte, wenn er nicht in Bauchlage gehalten worden wäre.»

Es folgte ein Sturm der Entrüstung. «Wie kann man behaupten, dass Mike in dieser Nacht auf jeden Fall gestorben wäre?», so die Demonstranten, die nach der Urteilsverkündung auf die Strasse gingen. 

Simon Ntah, der Anwalt der Kläger, beauftragte zwei unabhängige, international anerkannte Sachverständige: Michael Freeman, Professor für Rechtsmedizin an den Universitäten von Maastricht und Oregon, einer der sieben Gutachter, die nach dem Mord an George Floyd bestellt wurde. Und Victor Weedn, Gerichtsmediziner, Professor und ehemaliger Präsident der American Academy of Forensic Sciences.

«Syndrom des erregten Deliriums»

Diese Spezialisten befassten sich – pro bono – mit den forensischen Berichten, die nach dem Tod von Mike Ben Peter erstellt wurden. «Durch unterschiedliche Analysen kommen sie zu demselben Schluss», fasst Anwalt Ntah zusammen. «Es waren die exzessive Gewalt und das minutenlange Festhalten von Mike auf dem Bauch durch die Polizisten, die zu seinem Tod geführt haben.»

Diese Schlussfolgerung widerlegt die Hypothese eines «Syndroms des erregten Deliriums», die von den ersten Richtern angeführt wurde, um den Tod des Nigerianers zu erklären. Das heisst, eine Mischung aus extremem Stress, Widerstand und Psychopharmaka.

Einige zweifeln, dass es sich hierbei um eine echte Diagnose handelt, und sprechen von einer pseudowissenschaftlichen Konstruktion, die den tödlichen Ausgang von Eingriffen an schwarzen Menschen erklären soll. 

Zeugen hörten die Schreie

Was hat die Waadtländer Justiz mit den von den Klägern vorgelegten Berichten gemacht? Die Verteidigerin Odile Pelet betonte, dass die Berichte nicht als Gutachten, sondern als Behauptung zu werten seien: «Der Inhalt erlaubt es nicht, den gerichtlichen Gutachten zu widersprechen, die neutral von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben wurden. Die Autoren der Privatgutachten hatten zudem keinen Zugang zu den gesamten Strafakten. Und sie sind sich nicht einmal über die physiologische Todesursache einig. Diese privaten Berichte reichen in keinem Fall aus, um eine Kausalität zwischen der Bauchlage und dem Tod zu beweisen.»

Das andere Material, das den Berufungsrichtern neben den Erzählungen der Angeklagten zur Verfügung stand, waren die Zeugenaussagen. Mehrere Anwohner und Spaziergänger hatten verschiedene Momente der Festnahme beobachtet. Ihre Aussagen wurden im ersten Urteil weggewischt: «Es gibt fast so viele Interpretationen der Schreie, die in dieser Nacht gehört wurden, wie es Zuhörer gibt.» Die Zeugen seien von der Gewalt der Szene beeindruckt gewesen; das sei «völlig normal. Es besteht kein Zweifel daran, dass eine Person, die zum ersten Mal einer heiklen Festnahme beiwohnt, (...) einen Eindruck von Gewalt und Unverhältnismässigkeit gewinnt.» Wird die Berufungsverhandlung diesen Zuschauern Gewicht verleihen? Die kantonalen Richter haben jedenfalls zugestimmt, nächste Woche eine Zeugin erneut anzuhören.  

Der Fall ist einigermassen verzerrt, aber wohl auch aufgrund des begrenzten Materials, das der Justiz zur Verfügung steht. Eine Kritik an der Staatsanwaltschaft, die von der Verteidigung, der Klägerseite und sogar von den ersten Richtern geteilt wird, lautet: «Die Anklageschrift – ohne dass man ihrem Verfasser einen Vorwurf macht – enthält keine detaillierte Beschreibung dessen, was jedem Einzelnen vorgeworfen wird, und man hätte sich fragen können, ob es dort nicht bereits ein Verfahrensproblem gibt.»

Das ist Wasser auf die Mühlen von Anwalt Simon Ntah, der von Anfang an mehrere Verstösse gegen die Europäische Menschenrechtskonvention geltend machte, insbesondere gegen das Recht auf ein faires Verfahren. «Die Waadtländer Richter sind nicht bereit, Polizisten zu verurteilen, das ist ein systemisches Problem. Das Verfahren wurde auf eine Weise eingeleitet, die echte Gerechtigkeit verhindert.»

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