DISSIDENTIN VERTEIDIGT SICH IN VERSFORM

Die einst gefeierte Theater­regisseurin Jewgenija Berkowitsch kritisierte Russlands Krieg gegen die Ukraine. Jetzt steht sie vor Gericht, weil sie Terrorismus verherrlicht haben soll.

Als sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, sprach Jewgenija Berkowitsch den Richter in Versform an. Ihre Untersuchungshaft sollte wieder einmal verlängert werden. Die 39 Jahre alte Theaterregisseurin hatte seit Monaten vergeblich darum gebeten, aus dem Untersuchungsgefängnis in den Hausarrest verlegt zu werden, zu ihren beiden Töchtern. Berkowitsch trug ihre Bitte als Gedicht vor, sie unterstrich damit die ganze Hoffnungslosigkeit ihres Falls. Das Verfahren gegen sie wirkt längst wie eine Inszenierung. Richter, Staatsanwalt und Zeugen treten auf, um dem Publikum einen fairen Prozess vorzuspielen.

Seit Mai läuft nun der Prozess. Jewgenija Berkowitsch wird vor einem Moskauer Militärgericht angeklagt, weil sie Terrorismus gerechtfertigt haben soll. Das Theaterstück, um das es geht, tut genau das Gegenteil. Es heisst «Finist, der helle Falke», Autorin Swetlana Petrijtschuk sitzt neben Berkowitsch im Anklagekäfig. In ihrem Stück lernen russische Frauen islamistische Terroristen im Internet kennen, folgen ihnen nach Syrien. Als sie später betrogen nach Russland zurückkehren, werden sie bestraft. Das Stück verurteilt Terrorismus.

Trotzdem stehen die beiden Frauen, die es vor vier Jahren auf die Bühne brachten, nun auf Russlands Liste der «Extremisten und Terroristen». Das sei etwa so, als werde Leo Tolstoi wegen «Krieg und Frieden» vorgeworfen, einen Krieg anzetteln zu wollen, schrieb der Dramatiker Michail Durnenkow bei «Meduza».

Es drohen bis zu sieben Jahre Straflager

Den Behörden geht es jedoch kaum um das Stück selbst. «Finist, der helle Falke» hat erst 2022 zwei Goldene Masken gewonnen, Russlands renommiertesten Theaterpreis – und damit die Zustimmung der Mächtigen im russischen Kulturbetrieb. Trotzdem sitzen Autorin und Regisseurin seit mehr als einem Jahr hinter Gittern. Bei einer Verurteilung drohen bis zu sieben Jahre Straflager.

Worum geht es also wirklich? Jewgenija Berkowitsch hat sich von Anfang an gegen den Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen, hat sich am 24. Februar 2022 mit einem Protestplakat auf die Strasse gestellt. Elf Tage verbrachte sie damals in Haft. Sie hat sich für politische Gefangene eingesetzt, hat ihre Kollegen aus der Theaterwelt dazu aufgerufen, Preise und Auszeichnungen zu versteigern, um Geld für Verteidiger zu sammeln. Sie hat auch früher schon gedichtet, zuletzt ging es in ihren Versen immer wieder gegen den Krieg.

Ihr Talent, ihre soziale Haltung bringt Berkowitsch auch aus ihrer Familie mit, ihr Grossvater liebte das Theater, ihr Vater ist Dichter. Als ihre Grossmutter, die Menschenrechtlerin und Autorin Nina Katerli, im November starb, brachte man Berkowitsch in Handschellen zur Beerdigung. 25 Stunden habe sie dafür in einem kalten Käfig im Gefängnistransporter gesessen, klagte sie später vor Gericht.

Flucht von Kulturschaffenden

Viele ihrer Kollegen sind wegen ihrer Antikriegshaltung längst geflohen. Auch Berkowitschs früherer Lehrer Kirill Serebrennikow. Bei ihm hat Berkowitsch an der Moskauer «Art Theatre School» gelernt, später mit ihm gearbeitet. Serebrennikow stand 2017 vor Gericht, durfte 2022 aber überraschend ausreisen.

Nun möchte man in Russland offenbar auch diejenigen loswerden, die trotz ihrer Kritik geblieben sind. Berkowitschs Gedicht haben ihre Kollegen in einem Video aufgegriffen, es zeigt Gerichtsszenen, unterlegt mit Musik, dazu sprechen die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa und andere Kulturschaffende die Verse. Keiner von ihnen ist noch in Russland.

Berkowitsch ist geblieben, wegen ihrer Arbeit, wegen ihrer beiden Töchter, die sie und ihr Mann adoptiert haben. Damals waren die beiden 13 und 15 Jahre alt, hätten kaum lesen und schreiben können, sagte Berkowitsch kürzlich in einem Interview, beschreibt sie als traumatisiert. Fluchtgefahr? Unmöglich – das hat sie auch dem Richter schon gesagt, in Prosa und in Versen.

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