DIE SCHWEIZ ENTDECKT IHRE HEISSBLüTIGKEIT

Bisher überliess die Fussball-Schweiz das Ausflippen in Autokolonnen eher anderen Nationen. Damit scheint nun Schluss zu sein.

Im Zuge der heurigen Fussball-Europameisterschaft gibt es von einem Phänomen zu berichten, das in unserem Kulturkreis bisher eher verpönt war.

Aber voilà: Die Schweiz ist dazu übergegangen, ihrer Begeisterung über das eigene Nationalteam mittels Autokorsos Ausdruck zu verleihen. Spätestens nach dem Sieg gegen Italien ist diese Eigenart in den Stand der Massenphänomene gerückt.

Bis tief in die Nacht kurvten helvetische Personenkraftwagenbesitzer (ich gendere hier bewusst nicht) fahnenbefrachtet durch die bestfrequentierten Gassen der Schweiz, hupend und johlend (und jene, die des Johlens müde wurden, liessen einfach den Motor ihres Alfa Romeo aufheulen).

Wer sich gefragt hatte, warum noch Autos mit Dachfenstern gebaut werden, bekam die Antwort: Damit man fahnenschwingend und in Siegerposen der Nachbarschaft beweisen kann, dass man noch zu Eskapismus fähig ist. Kurz: Es herrschte eine Landeseuphorie, wie sie noch kein 1. August je hervorgekitzelt hat. 

Eingeschlafene Reflexe

Ich werde bei solchen Vorkommnissen immer ein bisschen nachdenklich. Nicht wegen der hupenden Schlachtenbummler, sondern eher wegen mir.

Bin ich womöglich emotional frigide, dass ich selbst bei historischen Schweizer Fussball-Siegen nicht den Reflex habe, in die Tiefgarage zu spurten, meinen Mazda zu starten, an der Tanke noch schnell helvetisch gefärbten Zierrat und Fahnen zu besorgen, um dann unter Betätigung des Signalhorns Richtung Innenstadt zu steuern und herzuzeigen, dass auch ein braver japanischer Vierzylinder ganz schön Lärm zu machen imstande ist?

Dabei habe ich ja durchaus Bewunderung übrig für öffentlich ausgelebte Sportbegeisterung.

Wenn bisher vornehmlich Angehörige etwas temperamentbegabterer Südländer hupend durch die Innenstädte kurvten, ertappte man sich als schaulustiger Schweizer auch schon mal beim Gedanken, dass diese Heissblüter eben schon noch wüssten, wie man richtig feiert, auch wenn deren Begeisterung objektiv betrachtet zu grossen Teilen im Interieur des eigenen Mobils verpuffte. 

Eine Folge des Klimawandels?

Ich erinnere mich daran, dass ich einmal während einer Tour-de-France-Übertragung am Strassenrand – neben äusserst enthusiasmiert aufbrausenden Sportsfreunden – einen Mann entdeckte, der als dampfendes Gespenst verkleidet war.

Ich weiss nicht genau, wie er das technisch bewerkstelligt hatte. Er stand in einer Haarnadelkurve und war in halb transparenten Stoff gehüllt, aus dem weisser Rauch entwich. Und zwar viel davon.

Auch hier stellte ich mir die Frage, was für ein Ereignis mich dazu treiben könnte, mich als dampfendes Gespenst an eine Strasse zu stellen und mal so richtig auszuflippen. Ich überlegte und überlegte. Der unverhoffte Gewinn eines extrem grossen Geldbetrags? Freude gewiss, aber wohl nicht gleich eine Einwicklung in halb transparenten Tüll.

Ein Sieg gegen meine Gemahlin im Minigolf? Überschwang ja, aber die Konstruktion einer handwerklich komplizierten Vorrichtung zur Raucherzeugung? Vermutlich würde das bei meiner Ehefrau auf Unverständnis stossen. 

Vielleicht ist es auch bloss eine Frage der Zeit und der neue Autokorso-Spleen der Schweiz eine soziale Kollateralerscheinung des Klimawandels. Quasi der erste kollektive Temperamentsausbruch in der schleichenden Mediterranisierung unseres Landes.

Also nicht erschrecken, sollten Sie als Autokorso-Teilnehmer am Strassenrand auf einmal ein rot-weiss dampfendes Gespenst entdecken. Dann wäre selbst aus mir noch ein richtiger Heissblüter geworden.

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