DIE EXTREME RECHTE LIEGT KLAR VORN – FRANKREICH STEHT VOR EINER HISTORISCHEN ZäSUR

In der vorgezogenen Parlamentswahl hat Marine Le Pens Rassemblement National die erste Runde klar gewonnen. Schafft sie eine absolute Mehrheit?

Frankreich verschiebt sich so weit nach rechts wie noch nie in seiner modernen Geschichte: Es zeichnet sich eine historische Zäsur im Leben der Republik ab. Das rechtsextreme Rassemblement National hat gemäss ersten Prognosen (Stand 21.07 Uhr) vom Sonntagabend im ersten Durchgang der vorgezogenen Parlamentswahlen 34 Prozent der Stimmen gewonnen. Vor der Stichwahl vom 7. Juli wird der Partei von Marine Le Pen eine Ausbeute von insgesamt 240 bis 270 Sitzen im neuen Parlament vorausgesagt; die absolute Mehrheit in der Volksversammlung liegt bei 289.

Das linke Wahlbündnis Nouveau Front Populaire brachte es auf 29,1 Prozent, ihre Aussicht wurde auf 180 bis 200 Sitze geschätzt. Mit 21,5 Prozent der Stimmen wird es das Lager von Präsident Emmanuel Macron, Ensemble pour la République, voraussichtlich auf 60 bis 90 Sitze im neuen Parlament bringen. Die konservativen Republikaner könnten 30 bis 50 Sitze gewinnen.

Hohe Wahlbeteiligung

Wie bedeutsam diese Wahl für die Franzosen ist, zeigte die starke Wahlbeteiligung: Ungefähr 67 Prozent – das sind mehr als zwanzig Prozentpunkte mehr als vor zwei Jahren. Seit drei Jahrzehnten hatten sich bei Parlamentswahlen nicht mehr so viele Wähler mobilisieren lassen, nämlich ungefähr 35 Millionen.

Für die Lepenisten ist das ein einmalig hohes Resultat. Nie in der Geschichte des früheren Front National, also seit 1972, stand die Partei der Familie Le Pen so nahe an der Schwelle zur Macht: Im bisherigen Parlament hatte der Rassemblement National 89 Sitze. Nun könnte es also sein, dass er nach der zweiten Wahlrunde die absolute Mehrheit erreicht und das Land mitregieren könnte. Für den Fall, dass die Partei das schaffen sollte, sollte ihr 28-jähriger Präsident Jordan Bardella neuer Premierminister werden.

Le Pen spricht schon von Machtwechsel

«Die Demokratie hat gesprochen», sagte Le Pen nach der Wahl. «Die Franzosen wollen ein neues Kapitel schreiben.» Die hohe Beteiligung legitimiere die Wahl zusätzlich. Das sei die erste Etappe zum Machtwechsel. Sie hoffe, Bardella werde eine absolute Mehrheit erhalten, damit er als Premier Reformen umsetzen könne.

Ob es so weit kommt, ist dennoch nicht sicher. Die hohe Wahlbeteiligung hat dazu geführt, dass es in vielen Wahlkreisen zu so genannten Triangulaires kommen wird, das heisst: zu Stichwahlen mit drei verbliebenen Bewerbern. Nun kann es aber sein, dass viele Drittplatzierte aus dem linken und zentristischen Lager sich aus dem Rennen zurückziehen, um so die Chancen der extremen Rechten zu schmälern.

Im französischen Politjargon nennt man das «republikanische Front», eine Art Damm. Die Frage ist, ob der noch funktioniert. Bis Dienstagabend um 18 Uhr haben die Kandidaten und ihre Parteien Zeit, um sich zu entscheiden. Macron rief schon einmal zur Wahl von «klar demokratischen und republikanischen Kräften» auf.

Gewännen die Lepenisten am 7. Juli eine absolute Mehrheit im Parlament, käme es zum vierten Mal seit 1958 zu einer «Cohabitation» an der Exekutivspitze Frankreichs. Der Begriff meint wörtlich, dass der Präsident und der Premier «zusammenwohnen», gemeinsam und oft auch gegeneinander regieren, weil sie unterschiedlicher politischer Couleur sind.

Bei früheren «Cohabitations» bestand das Duo jeweils aus einem Sozialisten und einem Bürgerlichen. Bei allen persönlichen und ideologischen Differenzen: Was die politischen Fundamente anging, in nationalen wie in internationalen Belangen, waren sie sich immer nahe. Das wäre nun dramatisch anders, sollte die extreme Rechte ihre alte europaskeptische bis europafeindliche und xenophobe Agenda umsetzen wollen.

Eine heikle «Cohabitation»

In Fragen der Aussen- und Verteidigungspolitik hat in Frankreich hauptsächlich der Präsident das Sagen, er ist gemäss Verfassung auch «Chef des Armées». Doch Le Pen liess schon anklingen, dass ihr Premier, der zuständig wäre für das Budget der Verteidigung, den Präsidenten gegebenfalls in die Schranken weisen würde. Für sie ist «Chef des Armées» ein «Ehrentitel». An den Kordeln des Geldbeutels ziehe der Premier des Landes, sagte sie vor ein paar Tagen. Von diesem Konflikt könnte auch das Engagement Frankreichs an der Seite der Ukraine abhängen.

Sollte kein Lager eine absolute Mehrheit erreichen, wäre das Parlament blockiert. Das würde Frankreich vor eine neue Herausforderung stellen: Das Land hat keine Koalitionskultur, wie sie nötig wäre, um breite Allianzen zu schmieden. Auch parteilose Expertenkabinette gab es in Paris noch nie. Und auflösen kann Macron das Parlament erst in einem Jahr wieder.

Ein Jahr Blockade? Viele Kommentatoren in Frankreich meinen, das wäre viel zu lange. Der Präsident beteuert zwar seit drei Wochen, dass er unter keinen Umständen vor dem Ende seiner Amtszeit im Mai 2027 zurücktreten werde. Doch vielleicht würde der politische Druck dann bald zu gross werden und zwänge ihn dazu.

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