INTERVIEW - MIT CHEMIE GEGEN DEN KLIMAWANDEL: «WIR MüSSEN DIE ART UND WEISE äNDERN, WIE WIR DINGE HERSTELLEN»

Charlotte Vogt ist überzeugt: Katalysatoren – der Motor hinter vielen chemischen Reaktionen – sind der zentrale Schlüssel, um den Klimawandel aufzuhalten. Am Technion – Israel Institute of Technology in der israelischen Küstenstadt Haifa leitet die niederländische Chemikerin seit 2021 eine eigene Arbeitsgruppe, das «Charlotte Vogt Laboratory». Die Gruppe forscht an neuen Katalysatoren. Mit diesen könnte man zum Beispiel CO2 in nützliche Produkte umwandeln.

Charlotte Vogt, was fasziniert Sie so an Katalysatoren?

Katalysatoren beschleunigen Reaktionen oder machen sie überhaupt erst möglich. Sie sind quasi der Motor hinter vielen chemischen Reaktionen. Es gibt sie so gut wie überall: In unseren Autos, in industriellen Prozessen, in der Natur und selbst in unseren Körpern steuern sie als Enzyme lebenswichtige Prozesse. Sie sind also unglaublich wichtig für uns Menschen.

Im Chinesischen bedeutet das Wort Katalysator Heiratsvermittler. So wie ein Heiratsvermittler zwei Personen zusammenbringt, lässt ein Katalysator zwei chemische Stoffe miteinander reagieren. Eine bekannte katalytische Reaktion ist etwa die Knallgasreaktion mit Wasserstoff und Sauerstoff, die durch den Katalysator Platin eingeleitet wird.

Woran forschen Sie genau in Ihrem Labor?

Alle chemischen Reaktionen, mit denen wir arbeiten, sind darauf ausgerichtet, bessere Katalysatoren zu entwickeln, um die Prozesse in der Industrie nachhaltiger zu machen. 80 Prozent unseres Energiebedarfs und 75 Prozent unserer derzeitigen Treibhausgasemissionen entfallen auf ebendiese katalytischen Prozesse. Je schneller und effizienter Reaktionen mit besseren Katalysatoren ablaufen, desto weniger CO2-Emissionen werden verursacht. Diese Reduktion erreichen wir durch niedrigeren Energieverbrauch und weniger Abfallprodukte.

Kann die Katalyse also tatsächlich helfen, den Klimawandel aufzuhalten?

Wir nutzen Katalysatoren in etwa 90 Prozent der chemischen Prozesse: ob in der Ölraffinerie oder in der Kunststoff- und Lebensmittelindustrie. Katalysatoren spielen eine Rolle bei einem Drittel der gesamten globalen Wirtschaftsleistung. Wenn wir bessere, effizientere Katalysatoren entwickeln, können wir enorm viele CO2-Emissionen sparen. Also ja: Die Katalyse ist definitiv ein zentraler Schlüssel, um den Klimawandel zu stoppen.

Und was genau untersuchen Sie an den Katalysatoren?

Wir müssen zunächst einmal verstehen, wie die Katalysatoren arbeiten. Wir haben dafür spezielle Reaktoren, um chemische Reaktionen in Echtzeit zu beobachten. Ausserdem berechnen wir, ob es sinnvoll ist, die Prozesse im grossen Massstab zu nutzen.

Das klingt sehr abstrakt. Können Sie mir ein konkretes Beispiel geben?

Die Herstellung von Feinchemikalien verursacht zum Beispiel sehr viel Abfall. Feinchemikalien sind hochreine chemische Verbindungen, die in kleinen Mengen produziert werden. Sie werden in Branchen wie der Pharmaindustrie, der Landwirtschaft, der Lebensmittelproduktion und der Elektronik verwendet. Sie sind wertvoller als Massenchemikalien und haben spezialisierte Anwendungen. Einige meiner Kollegen arbeiten daran, die Anzahl der Reaktionsschritte bei der Herstellung von Feinchemikalien zu reduzieren. Langfristig wollen wir also Chemikalien in weniger Schritten synthetisieren, um den Energie- und Ressourcenverbrauch zu reduzieren. Und am Ende werden die Prozesse dadurch auch wirtschaftlicher. Es muss sich ja auch für die Industrie lohnen. Ausserdem arbeiten wir daran, wie wir das CO2, das etwa in grossen Industrieanlagen entsteht, nicht mehr in die Atmosphäre lassen und als Abfall sehen, sondern es in etwas Nützliches umwandeln – mithilfe von Katalysatoren.

Auch andere Wissenschafter forschen weltweit daran, aus CO2 etwas Nützliches herzustellen. An der Friedrich-Schiller-Universität in Jena wird etwa daran gearbeitet, aus CO2 Ethylen zu machen – das ist der Ausgangsstoff für Plastikverpackungen.

Die deutsch-südafrikanische Forschungskooperation CARE-O-SENE arbeitet daran, aus CO2 Kerosin herzustellen. Und in der Schweiz entsteht die weltweit erste industrielle Anlage zur Herstellung synthetischer Treibstoffe aus CO2, Methan, Wasser und Sonnenlicht. All das gelingt nur mithilfe der Katalyse.

Können wir bereits Kraftstoffe wie Kerosin aus CO2 herstellen?

Ja, aber es ist derzeit weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll. Die Katalysatoren, die wir derzeit haben, können zum Beispiel nicht das gesamte CO2 umwandeln. Und sie erzeugen meist nicht nur das Produkt, das wir haben wollen, sondern auch viele Nebenprodukte. Die Prozesse sind also nicht wirtschaftlich. Mit besseren Katalysatoren könnte sich das möglicherweise ändern.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich Kraftstoffe aus CO2 irgendwann auf dem Markt etablieren werden?

Der Energieaufwand für die Gewinnung von CO2 direkt aus der Luft ist extrem hoch. Es wird lange dauern, diese Technologien auf den globalen Energiemarkt zu bringen, wenn überhaupt. Und die CO2-Umwandlung allein reicht für den Klimaschutz auch nicht aus. Wir müssen zusätzlich CO2 einfangen und langfristig speichern. Darum forschen wir gegenwärtig auch an Mineralisierungsprozessen, die im Meerwasser ablaufen. Die Ozeane speichern etwa 88 Prozent des gesamten Kohlenstoffs auf der Erde und regulieren weitgehend die atmosphärische CO2-Konzentration durch eine Reihe komplexer Prozesse. Unser Hauptfokus liegt aber nach wie vor auf der Katalyse.

Charlotte Vogt hat Erfolg in dem, was sie tut. 2021 wurde sie in der Serie «30 under 30» des amerikanischen Magazins «Forbes» zu einem der vielversprechendsten jungen europäischen Talente in ihrem Fachgebiet, der Chemie, gezählt. In den vergangenen Jahren erhielt die 32-jährige Wissenschafterin mehrere Forschungspreise – zuletzt wurde ihr der Martinus-van-Marum-Preis für ihre Doktorarbeit von der Königlich Niederländischen Gesellschaft der Wissenschaften (KHMW) verliehen.

Dass Charlotte Vogt zur Chemie und zur Katalyse gekommen sei, habe sie vor allem ihren Eltern zu verdanken, erzählt sie.

Ohne meinen Vater, der selbst Chemiker ist, hätte ich nicht gewusst, was es bedeutet, in der Wissenschaft zu arbeiten. Ich kannte aber keine Frau in meinem Umfeld, die als Wissenschafterin in einer höheren Position arbeitete, und ich denke, das geht vielen Frauen so. Letztlich war es meine Mutter, die sagte, ich solle eine Naturwissenschaft studieren, sonst würden meine Eltern mein Studium nicht bezahlen.

Zunächst haderte Vogt mit dem Studium. Doch als sie dann erstmals am Thema Katalyse arbeitete, wusste sie: Das ist das, woran sie forschen will. Nach ihrem Master in Chemie und Unternehmensführung arbeitete Vogt zunächst als Praktikantin in einem grossen Chemieunternehmen. Doch dann zog es sie zurück in die Forschung.

Reichen Technologien allein aus, um den Klimawandel zu stoppen? Müssen wir nicht auch unsere Lebensweise ändern?

Auf jeden Fall. Wir müssen nachhaltiger leben, also den Fleischkonsum, den hohen Plastikverbrauch, das Fliegen einschränken. Wir müssen erneuerbare Energiequellen ausbauen, Naturschutz umsetzen und mehr. Aber um langfristig erfolgreich zu sein, müssen wir grundlegend die Art und Weise ändern, wie wir Materialien und Dinge herstellen. Kurzum: die Chemie. Wir haben das bereits in der Vergangenheit geschafft – und die Katalyse hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt.

Können Sie da Beispiele nennen?

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts drohte eine globale Hungersnot, weil es nicht genug Vogelkot aus Chile gab: den sogenannten Guano, eine wichtige Quelle für Dünger, der aus Ländern wie Chile exportiert wurde. Das Problem wurde durch einen katalytischen Prozess gelöst, den Haber-Bosch-Prozess.

Der deutsche Chemiker Fritz Haber entdeckte mit seinen Mitarbeitern Anfang des 20. Jahrhunderts, wie man Stickstoff aus der Luft mit Wasserstoff zu Ammoniak umwandeln kann, und Carl Bosch entwickelte die Technik weiter, um sie im industriellen Massstab anzuwenden. Dank dem Haber-Bosch-Prozess konnte man künstlichen Dünger in grossen Mengen herstellen. Heute ist dieser Prozess die Grundlage für die Herstellung der meisten Düngemittel.

Charlotte Vogt erzählt von einem weiteren Beispiel: Los Angeles in den 1950er und 1960er Jahren.

Damals brachten die hohen Konzentrationen von Schwefeldioxid und Stickoxiden extremen Smog. Das führte zu schweren Lungenschäden bei einem Drittel der Bevölkerung. Die Luftverschmutzung wurde durch Autoabgase und industrielle Emissionen verursacht.

Dann hat man begonnen, Katalysatoren in Autos einzusetzen, aber auch strengere Emissionskontrollen einzuführen. So konnte das Problem erheblich reduziert werden. Aber wir haben es bis heute nicht ganz gelöst. Mit den gegenwärtigen technologischen Fortschritten bin ich aber optimistisch, dass wir auch aktuelle Probleme lösen können. Natürlich werden wir neue Probleme schaffen, aber Menschen sind klug und anpassungsfähig.

Während Charlotte Vogt erzählt, strahlen ihre Augen. Sie gestikuliert mit ihren Händen und wirkt in ihrer ganzen Art zuversichtlich.

Sie sind wahrscheinlich die optimistischste Interviewpartnerin, die ich je hatte.

Es ist eine aktive Entscheidung, positiv zu sein, aber ich frage mich ständig, ob ich zu naiv bin. Negatives Denken kann lähmend sein, und ich glaube, dass positives Denken in gewissem Masse zu positiven Ergebnissen führt. Und ich sehe auch, dass sich viel bewegt.

Erhält die Katalyseforschung die Aufmerksamkeit, die sie verdient, gerade auch im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Klimawandels?

Ich hoffe, dass Wissenschaft generell, und vor allem die Katalyseforschung, populärer wird. Es ist ein extrem spannendes Feld, das auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit verdient. Und wir brauchen viele weitere kluge Köpfe, die daran arbeiten.

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