DIE «NEW YORK TIMES» LäSST JOE BIDEN FALLEN

Die wichtigste Zeitung der Welt stand lange Zeit beinahe uneingeschränkt hinter dem Präsidenten. Seit seiner TV-Debatte hat das Blatt eine Kehrtwende vollzogen.

Seit Joe Bidens erster Antwort während der TV-Debatte vom letzten Freitag gegen Donald Trump ist nichts mehr, wie es einmal war. Das heisere, unsichere Stimmchen des Präsidenten löste ein politisches Erdbeben aus.

Als Erster kippte Lloyd Doggett. Der demokratische Abgeordnete aus Texas forderte öffentlich Bidens Rücktritt. Experten erwarten, dass er mit diesem Tabubruch die Schleusen endgültig öffnete: Hinter den Kulissen soll sich eine wachsende Gruppe von demokratischen Abgeordneten formieren, welche nachziehen will.

Sehr dezidiert Stellung bezieht auch die wichtigste Zeitung der USA (und der Welt). Nur Stunden nach dem entmutigenden Auftritt des Präsidenten vor der Kamera forderte die «New York Times» in einem Editorial den Rücktritt des Präsidenten: «To Serve His Country, President Biden Should Leave the Race», titelte das Blatt: «Um seinem Land zu dienen, soll Präsident Biden das Rennen aufgeben.» In der Online-Ausgabe wurde das Meinungsstück stundenlang an prominentester Stelle zuoberst auf der Seite platziert.

Es ist eine Abkehr vom bisherigen Kurs. Bis zur Debatte hatte sich die «New York Times» (NYT) mit Kritik am Präsidenten vornehm zurückgehalten – und zeigte sich bei der Mission, Donald Trump als Wiederholungstäter zu verhindern, stets als zuverlässige Verbündete. Bis ins letzte Detail schlachteten die Reporter jeden Misstritt des verachteten Sohnes der Grossstadt aus. Trump ist in New York eine Persona non grata – insbesondere beim liberalen Blatt, das sich Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit auf die Fahne schreibt.

Bidens zerbrechliche TV-Präsenz nötigte die NYT, sich zu entscheiden: für den Mann oder die Mission. Die NYT entschied sich für die Mission – und doppelte heute mit einem hit piece nach.

Ein hit piece nennt man im Journalismus einen Artikel, der darauf abzielt, eine Person oder ein Produkt in ein negatives Licht zu rücken: «Biden’s Lapses Are Said to Be Increasingly Common und Worrisome», lautet die heutige Aufmachergeschichte – «Bidens Ausrutscher sollen immer häufiger werden – und besorgniserregender». Die Botschaft ist klar: Der Mann ist nicht mehr fit für weitere vier Jahre.

Zu Beginn des Artikels heisst es dann auch unmissverständlich: «Verschiedene aktuelle und ehemalige Beamte und andere, die ihn [Joe Biden] hinter verschlossenen Türen trafen, bemerkten, dass er zunehmend verwirrt oder lustlos wirkte – oder den Gesprächsfaden verlor.» Die NYT bezieht sich dabei auf Aussagen, welche zum Teil Wochen und Monate zurückliegen, bisher aber zurückgehalten und nicht veröffentlicht wurden.

Der Rest des umfangreichen Artikels liest sich wie eine Würdigung: Wie Biden ein Reiseprogramm meisterte, das sogar jüngere Mitglieder der Belegschaft in die Knie zwang. Wie Biden in Sitzungen gut vorbereitet sei und scharfsinnige Fragen stelle. Vor allem aber: Wie Biden am Telefon Israels Ministerpräsident Netanyahu dezidiert in die Schranken wies, als Iran Israel mit Raketen attackierte. Er habe mit seiner Bestimmtheit eine Eskalation des Konflikts der beiden Staaten verhindert, lobt das Blatt.

Man muss die «New York Times» Journalismus nicht lehren – die Gratwanderung funktioniert: Das Stück zielt mit chirurgischer Präzision auf Bidens politische Zukunft, tastet seine Würde aber in keiner Weise an. Im Gegenteil. Bidens mutmasslich letzte wichtige Amtshandlungen wird als Husarenstück gefeiert.

Es ist die erste Regel im Grundkurs für Diplomatie. Dem Präsidenten wird unverhohlen die Türe gewiesen, aber gleichzeitig die Möglichkeit gewährt, mit erhobenem Haupt die Segel zu streichen. Ob er das Angebot annimmt, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

PS: Eine andere uralte Regel der Gesprächsführung, zu finden in Aristoteles «Topik», lautet, nicht mit dem Erstbesten zu diskutieren: «Diskussionspartner sollten über genügend Verstand besitzen, nichts allzu Absurdes vorzubringen.» Gute Diskussionsgegner zeichnen sich laut Aristoteles dadurch aus, dass sie die Wahrheit schätzen, gern gute Argumente hören, und diese dem Gegner nicht neiden. Sie sollten zudem die Grösse haben, zu ertragen, unrecht zu behalten, wenn die Wahrheit auf der gegnerischen Seite liegt.

Die nächste Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump ist für den 10. September geplant.

Wer mehr über Diskussionskultur, -kniffe und -tricks lesen will, dem sei der Wikipediaeintrag zur Eristischen Dialektik empfohlen.

Du findest die Präsidentschaftsdebatte einen grossen Kindergarten? Dann schau mal hier …
Video: watson/lucas zollinger

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