DIE JUSO WERDEN (NOCH) RADIKALER

Die Internationale können sie natürlich beide auswendig. Den Kapitalismus sehen sie als Übel von allem. Und die Revolution als Notwendigkeit. Bei Mirjam Hostetmann tönt das so: «Kapitalismus ist Krieg. Sozialismus ist Frieden.» Und bei Jakub Walczak so: «Wir befinden uns in Umbruchzeiten und blicken auf eine Zukunft des Sozialismus oder eine der Ausrottung. Unsere Antwort muss klar sein: Sozialismus.»

Die Juso wählen am Samstag ein neues Präsidium. Der Zürcher Nicola Siegrist tritt zurück. Eins ist klar: Ein Mann soll es nicht werden. Zur Wahl stellen sich Mirjam Hostetmann (25), Geschichtsstudentin aus dem konservativen Sarnen, die ihre sexuelle Identität im Rahmen der Kandidatur irrelevant findet. Und Jakub Walczak (19), nonbinäre Person aus Bern, die eine Informatiklehre bei der Swisscom macht und politische Papiere mit «Jakub Walczak (keine Pronomen)» unterzeichnet.

Man könnte meinen, dass Walczak einen Vorteil hat in der «queersten Partei der Schweiz» (NZZ am Sonntag). Wenige der aktiven Jungsozialisten leben offenbar heteronormativ. Unter Mitgliedern zirkuliert der Spruch: «Du bist so lange queer, bist du dich als straight outest.» An Anlässen und in Lagern gibt es Schutzräume für alle und separate Rückzugsräume für diejenigen, die sich nicht im herkömmlichen Sinn als Mann identifizieren.

Doch wenn man sich unter Juso umhört, ist die Geschlechtsidentität bei der Präsidiumswahl zweitrangig. Wichtiger sei die Strategie. Und darin unterscheiden sich die beiden Kandidierenden wenig, wenn man ihre Motivationsschreiben studiert. So wird bei der Lektüre sofort klar: Egal, ob die Basis Hostetmann oder Walczak wählt, die Juso werden radikaler. So sagt Hostetmann zur NZZ: «Wir müssen wieder mutiger und lauter werden.» Walczak sagt: «Ja, ich möchte dazu beitragen, dass die Juso revolutionärer werden.»

«Die Juso schwächeln»

Die Juso waren früher häufig für einen Skandal gut. Im Jahr 2008 kiffte der damalige Präsident Cédric Wermuth vor laufender Kamera und verbreitete ein Plakat gegen Kriegsmaterialexporte, das die damalige Bundesrätin Doris Leuthard mit blutigen Händen zeigte. Tamara Funiciello verbrannte 2017 ihren BH, bezeichnete die Juso als «Stachel im Arsch der SP» und kritisierte den Song «079» von Lo& Leduc. Und auch Ronja Jansen hatte einige mediale Präsenz.

Doch in den letzten Jahren wurde es ruhiger um die Juso. Die Mitgliederzahlen wachsen langsamer als auch schon, Ende Mai waren es 4700. Das lag unter anderem am Abebben der Klimabewegung, aber auch am Stil von Nicola Siegrist, der die Partei 2022 übernommen hatte. Seine Strategie lautete: «Weniger Skandale, mehr sachliche Diskussionen». Er habe «sozialistische und feministische Politik» anschlussfähiger machen wollen, sagt Siegrist heute. Einfach sei das aber nicht: «Jungparteien werden zu wenig ernst genommen. Wir müssen zwingend Radikales ohne grossen Inhalt bieten, damit wir beachtet werden.»

Siegrist sass bereits im Zürcher Kantonsrat, als er Präsident wurde. In der parlamentarischen Arbeit erreicht man mit Inhalten mehr als mit Widerstand. Doch in der Aufmerksamkeitsökonomie ist Auffallen alles, vor allem am Anfang einer politischen Karriere. Während Wermuth oder Funiciello direkt der Sprung vom Juso-Präsidium in den Nationalrat gelungen war, wurde Siegrist im Herbst von zwei bekannten Personen überholt, Anna Rosenwasser, Lobbyistin der Queer-Bewegung, und Islam Alijaj, Aktivist für Behindertenrechte. Vielleicht hat sich der Juso-Effekt auch etwas abgeschwächt, weil sozialistische Positionen mit Cédric Wermuth und Mattea Meyer in der Mutterpartei mächtige Fürsprecher haben.

Hostetmann und Walczak sehen die parlamentarische Arbeit eher als Nebenbühne. Hostetmann ist im Klimastreik politisiert worden und war Präsidentin der Juso Obwalden. Sie möchte «mehr Populismus» und weniger Kompromiss: «Wir leben in Zeiten, in denen man es sich nicht leisten kann, sich mit schlechten Kompromissen zufriedenzugeben.» Ein bürgerlicher Staat strebe keine fundamentale Gerechtigkeit an.

Als Beispiele nennt Hostetmann die Gleichstellung der Geschlechter, wo man «Gänseschrittchen» mache. Eine erstaunliche Bilanz kurz nach einer Frauenlegislatur, in der Parlamentarierinnen mit der Alliance F so viel erreicht haben wie selten zuvor, beispielsweise beim Sexualstrafrecht oder bei der Gendermedizin. Auf diese Detaildiskussion lässt sich Hostetmann aber nicht ein, bei der «Unterdrückungsherrschaft des Patriarchats» handle es sich um ein «systemisches Problem».

Ziviler Ungehorsam und Palästina

Walcazk ist im Co-Präsidium der Juso Stadt Bern, möchte mehr mit Bewegungen auf der Strasse zusammenarbeiten und ist im Ausnahmefall auch offen für den schwarzen Block und zivilen Ungehorsam. Die rote Linie sei Gewalt gegen Menschen. Ausserdem distanziert sich Walczak von der Hamas, hat aber an den Uni-Besetzungen der letzten Wochen teilgenommen und verteidigt den Slogan «From the river to the sea». Das ist bemerkenswert für eine Person, der sprachliche Sensibilität bei den eigenen Pronomen so wichtig ist. Der Slogan kann als Aufruf zum Vertreiben der Juden aus Israel verstanden werden. Walczak dagegen liest ihn als Forderung nach einer gemeinsamen demokratische Lösung für Israeli und Palästinenser.

Ob diese Aussagen bei der Präsidiumswahl einen Unterschied machen? Die Juso sind laut dem Noch-Präsidenten Siegrist beim Thema derselben Zerreissprobe ausgesetzt wie andere linke Parteien und Gruppierungen. Hostetmann hat nicht an den Besetzungen teilgenommen und äussert sich nicht. Vielleicht mag es also inhaltliche Unterschiede geben bei den Juso-Kandidierenden. Aber darüber spricht man nicht. Die Revolution verträgt keine Differenzen.

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