«DIE HöCHSTEN RUSSISCHEN VERLUSTE IN DIESEM KRIEG»

Die ukrainische Armee hat die Vorstösse der Russen in der Region Charkiw gestoppt. Das ist nicht nur taktisch, sondern auch strategisch ein Desaster für den Kreml.

Als vor knapp zwei Monaten, am 10. Mai, etwa 30’000 russische Soldaten über die Grenze in die Region Charkiw vordrangen, brach auf ukrainischer Seite Chaos aus. In den ersten Tagen konnte die Ukraine kaum nennenswerten Widerstand organisieren. Obwohl der Angriff lange erwartet worden war, schienen die Ukrainer überrascht gewesen zu sein.

Nach zwei Tagen hatten die russischen Invasoren bereits die Ortschaft Wowtschansk, etwa acht Kilometer hinter der Grenze, erreicht. Nach vier Tagen war der Kommandant der ukrainischen Streitkräfte in der Region Charkiw gefeuert.

In westlichen Medien wurden existenzielle Fragen gestellt: Würden die unter Munitionsmangel leidenden Ukrainer diesen Vorstoss überhaupt stoppen können? Ist Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, in Gefahr? Oder brechen die ukrainischen Verteidigungslinien an anderer Stelle zusammen, wenn von dort Soldaten nach Charkiw beordert werden müssen?

Ukrainer konnten Front stabilisieren

Nichts davon ist eingetreten. Der Ukraine ist es sogar gelungen, Wladimir Putins Armee nach langer Zeit wieder eine bedeutende Niederlage zuzufügen. Diese Niederlage wird Einfluss auf den weiteren Verlauf des Krieges haben. Zwar sind die Landesverteidiger immer noch in einer schwierigen Situation, denn Russland hat über weite Strecken der Front immer noch die Initiative. Doch die Lage scheint im Moment stabil zu sein – für Putin ein Debakel.

Das Mindestziel des Kremlchefs in der Region Charkiw war es wohl, eine Pufferzone zur russischen Grenze zu schaffen. Ausserdem sollten ukrainische Soldaten dort im Nordosten gebunden werden, sodass diese nicht zur Abwehr russischer Angriffe in der Region Donezk eingesetzt werden können. Dafür sollte unter anderem die Ortschaft Wowtschansk 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw erobert werden.

Doch die anfänglichen schnellen Vorstösse kamen bereits nach etwa acht Kilometern zum Erliegen, die Stadt war nie vollständig unter russischer Kontrolle. Im mittlerweile zerstörten Wowtschansk konnten ukrainische Truppen in den vergangenen Tagen sogar immer wieder einige Häuserblocks und Strassenzüge zurückerobern.

Die russischen Truppen dort, darunter auch Eliteeinheiten, agieren oft hektisch und überstürzt, wie sowohl ukrainische als auch russische Quellen berichten. Russische Kommandostrukturen wurden zerstört. Es gibt Videos, die zeigen, wie russische Soldaten sich ergeben. Viele weigern sich offenbar auch weiterzukämpfen. Denn die russischen Verluste seit Beginn der Offensive im Raum Charkiw sind monströs – «die höchsten in diesem Krieg», wie der britische Professor und Militärexperte Phillips O’Brien schreibt.

Russische Taktik führt zu hohen Verlusten

Genaue Zahlen sind schwer zu beschaffen, doch auch Geheimdienstberichte unter anderem aus den USA und Grossbritannien sprechen von mehr als 1000 toten russischen Soldaten im Mai – täglich. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erklärte, auf einen toten Ukrainer kämen sechs tote Russen. Diese Angabe kann nicht überprüft werden.

Der Grund für die extrem hohen Todeszahlen liegt in der russischen Taktik. Wie schon in anderen Schlachten schickt Moskau kleinere Infanterietrupps ohne den Schutz durch gepanzerte Fahrzeuge an die Front. Mit dem Eintreffen neuer Artilleriemunition konnten die Ukrainer viele dieser Trupps relativ schnell ausschalten.

Im Juni habe Putin dann bei Charkiw keine «signifikanten neuen Reserven mehr in die Schlacht geworfen», sagt der Militärexperte Michael Kofman bei «War on the Rocks». Verstärkt wurden dagegen Angriffe im Donbass vor allem bei Tschassiw Jar und westlich von Awdijiwka.

Doch auch dort konnte die russische Armee keine bedeutenden Fortschritte erzielen. Kofman nennt die russischen offensiven Anstrengungen der vergangenen Wochen «nicht sehr beeindruckend», sie seien «im Sand verlaufen». Der Ukraine sei es gelungen, «die Frontlinien viel schneller zu stabilisieren, als viele Beobachter gedacht haben».

Westen erlaubt Angriffe auf Ziele in Russland

Taktisch war die Offensive also ein Misserfolg für Russland, strategisch sogar ein Desaster. Denn unter dem Eindruck der ersten Erfolge der russischen Angriffe bei Charkiw entschieden die USA und andere westliche Verbündete, dass künftig mit westlichen Waffen auch Ziele in Russland angegriffen werden dürfen. Seither hat die Ukraine unter anderem mit US-amerikanischen ATACMS-Raketen Flugplätze, Flugabwehrsysteme, Nachschubrouten und andere militärische Infrastrukturziele in Russland beschossen. Putins Plan, eine Pufferzone zu schaffen, hat für sein Land sogar negative Folgen.

In Wowtschansk müssen die russischen Invasoren jetzt sogar noch grössere Verluste befürchten. Laut unbestätigten ukrainischen Berichten läuft der Versuch, die überlebenden russischen Soldaten in der Stadt einzukesseln.

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